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Freiheit in vollen Zügen
Botschaftsflüchtlinge Am 30. September 1989 schrieb eine Zugfahrt deutsche Geschichte. Tausende DDR-Bürger durften nach langem Ausharren über die Prager Botschaft in den Westen ausreisen. Der Günzburger Jens Hase war einer von ihnen. 25 Jahre später erlebt er diesen Abend noch einmal.
Gekommen, um zu bleiben: Jens Hase und die anderen Botschaftsflüchtlinge wurden bei ihrer Ankunft im fränkischen Hof jubelnd empfangen.       -  Gekommen, um zu bleiben: Jens Hase und die anderen Botschaftsflüchtlinge wurden bei ihrer Ankunft im fränkischen Hof jubelnd empfangen.
Foto: Wolfgang Eilmes (dpa) | Gekommen, um zu bleiben: Jens Hase und die anderen Botschaftsflüchtlinge wurden bei ihrer Ankunft im fränkischen Hof jubelnd empfangen.
Meike Schmid
Meike Schmid
 |  aktualisiert: 30.09.2014 10:03 Uhr

Zwei Worte kreisen in seinem Kopf. Fassen all das zusammen, was er fühlt. „Demut“ und „Ehrfurcht“. Jens Hase ist zurückgekehrt. Erstmals seit 25 Jahren. Sein leerer Blick haftet an den eisernen Stäben vor der Deutschen Botschaft in Prag. Am 30. September 1989 hat er sie zuletzt berührt. Als 19-Jähriger, ängstlich und wütend zugleich. Doch voller Hoffnung. Auf ein neues, ein freies Leben. Wenige Tage später saß er im ersten Zug. Seine Hände zittern, als er das Gitter berührt. Noch einmal will der 44-Jährige die letzten Stunden vor der Fahrt über die westdeutsche Grenze erleben. Erst seit ein paar Jahren lässt er die Erinnerungen zu, empfindet immer wieder anders. Doch hier, vor Ort, fokussieren sich seine Gedanken. Nur noch zwei Worte kreisen in seinem Kopf.

„Entschuldigung, waren Sie damals wirklich mit dabei?“ Eine Traube Touristen ist nähergekommen, hat seinen Erzählungen gelauscht. Hier, am Hinterhof der deutschen Botschaft, steht der Zaun, der für viele zum letzten Hindernis auf dem Weg in die Freiheit wurde. Ein Geschichtslehrer, der mit seiner Familie Prag besucht, nutzt seine Chance: „Wie lief das damals genau ab?“ Jens Hase lächelt. Zwei Jahrzehnte lang hat er seine Erinnerung verdrängt. Wollte nicht zurückschauen, nur im Jetzt leben. Zwei, drei Atemzüge hält er inne, dann erzählt er.

Es war ein ungemütlicher Samstagabend, als der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon des Palais Lobkowicz, dem Sitz der Deutschen Botschaft in Prag, trat. Im matschigen Park standen rund viertausend Flüchtlinge aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). „Mein Platz war dort hinten.“ Hase deutet auf den asphaltierten Bereich an der rechten Gebäudemauer. Mit 19 Jahren, Vokuhila-Frisur und verdreckter Kleidung empfand er Genschers Worte als „unwirklich“. „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist“– den Satz, dessen Ende im Jubelsturm unterging, habe er „wie in Trance“ erlebt. Erst wenige Tage zuvor hatte er den Entschluss gefasst, zu fliehen.

Gelernt zu verzeihen

„Ich weiß nicht, was man Gutes über die DDR sagen könnte.“ Jens Hases Gesichtszüge werden härter. Der gebürtige Eisenacher wuchs in einem systemkritischen Elternhaus mit fünf Geschwistern auf, arbeitete in einem Automobilwerk. Gut sei der Zusammenhalt gewesen, sagt er nach langem Überlegen. Man sei eben aufeinander angewiesen gewesen. Gleichzeitig habe man niemandem trauen können. „Wir wurden von allen Seiten bespitzelt.“ Mehr als ein Familienmitglied sei von der Stasi schikaniert und gefoltert worden.

Ein Grund, warum er seine Vergangenheit lange verdrängt hat. Vor fünf Jahren kam die Einsicht. „Ich habe gelernt zu verzeihen“, sagt er. Die DDR ist Teil seiner Biografie, wird es immer bleiben. Im Westen hat Hase sich ein neues Leben aufgebaut. Wohnt mit Frau und zwei Kindern im schwäbischen Teil Bayerns, arbeitet als Berufsschullehrer. Seine Erinnerung will er heute nutzen, um aufzuklären. Über den Sozialismus, die Stasi, seine Flucht. Als Zeitzeuge geht er in Bildungszentren – zurück nach Prag ging er nie. Zu emotional war dieser Ort für ihn. Ist er noch immer. „Ich habe richtig Bammel vor der Reise“, sagt er auf der Hinfahrt. Vor Ort ist die Angst verflogen, Erinnerungen sprudeln aus ihm heraus. Immer wieder mustert er den Zaun des Botschaftsparks, kneift ungläubig die Augen zusammen. „Da bin ich rüber.“

Westfernsehen ist der Antrieb

Es war eine Kurzschlussreaktion, die Hase 1989 hierhin brachte. Die Tagesschau – in Eisenach konnte man Westfernsehen empfangen – berichtete über die Botschaftsflüchtlinge. Wenige Monate zuvor hatten es erst seine Eltern, anschließend auch sein Bruder in die Bundesrepublik geschafft. „Mir hat das keiner zugetraut.“ Für seine Freunde sei er immer ein „Angsthase“ gewesen. Doch dann packte es ihn. Aus Überzeugung, „aber auch aus Trotz“. Kurz nach der Ausstrahlung saß er im Zug. Sein Ziel: Prag.

Heute erkennt er die tschechische Hauptstadt kaum mehr. Kopfschütteln, immer wieder. „Verrückt, wie einfach der Weg gerade war.“ Vom Bahnhof, durch das Touristengedränge, an Porträtzeichnern und Wurstständen vorbei über die Karlsbrücke zur Deutschen Botschaft – zu Fuß in einer knappen Stunde. 1989 wurde dieser Weg für ihn zur Tortur. „Ich bin nachts elf Stunden umhergeirrt, hatte Todesangst“, sagt Jens Hase. Auf die Innenseite seiner Hand hatte er sich mit bunten Filzstiften die bundesdeutsche Fahne gemalt. Die Richtung kannte er nicht, fragen konnte er nicht. „Die waren ja auch alle kommunistisch.“

Unterwegs traf er zwei Gleichaltrige und einen älteren Mann. Alle aus der DDR, alle wollten über den Zaun. Als sie endlich die bundesdeutsche Fahne wehen sahen, rannten sie los. Zum Hinterhof der Botschaft, den sie aus dem Fernsehen kannten. Hase hat Erinnerungslücken, kann sich nur schemenhaft an Stasi-Offiziere erinnern, die sie verfolgten.„Hier links“, rief ihm jemand hinter dem Zaun zu. Wie ferngesteuert kraxelte er über die Eisenstangen. „Ich war in der DDR immer einer der besten Kletterer gewesen.“ Hände griffen ihn – ob es Offiziere oder Helfer waren, weiß er nicht – dann sprang er in die Tiefe.

„Willkommen in Deutschland, willkommen in der Freiheit, du hast es geschafft“, hörte er einen anderen Flüchtling sagen. Einmal blickte Hase noch zurück: Der ältere Mann hatte es nicht geschafft. Unter Buhrufen wurde er von den Stasi-Offizieren abgeführt.

Dann kam das Warten. Langeweile im Botschaftspark. „Wir haben Flieger aus DDR-Geldscheinen gefaltet“, erzählt er. Wer einen aufgehoben und freudig eingesteckt hat, wurde ausgebuht. Das Feindbild war klar. Zwischendurch habe man anderen über den Zaun geholfen. „Hier hat mein Oberschenkel perfekt reingepasst“, erzählt der 44-Jährige stolz und quetscht sein Bein zwischen die Gitterstäbe. Passt noch immer.

Nach ein paar Nächten...(weiter auf Seite 2)

Nach ein paar Nächten im Treppenhaus kam er, der 30. September. „Ich mache an dem Datum jedes Jahr um 18.58 Uhr eine Flasche Sekt auf“, erzählt der Günzburger. Um diese Uhrzeit sprach Genscher seinen berühmtesten Satz. Für Hase ein zweiter Geburtstag. Keiner hatte geglaubt, dass sich Ostberlin auf einen Kompromiss einlässt. „Ich weiß nicht, wie viele ich geknutscht habe“, sagt er. Doch auf den Jubel folgte der Schock: Die Flüchtlinge sollten in Sonderzügen über das Gebiet der DDR in den Westen reisen. „Ich hatte Panik, dachte, die ziehen uns wieder raus.“ Aber der damalige Außenminister der Bundesrepublik gab ihm und den anderen Flüchtlingen sein Wort – und sie vertrauten ihm.

Ab diesem Zeitpunkt rannte Jens Hase. Erst ins Treppenhaus, holte seinen Rucksack, dunkelgrün mit braunem Lederboden – „typisch DDR“. Dann zu den Bussen, die auf die Flüchtlinge warteten. „Hier standen überall Tschechen Spalier“, sagt der 44-Jährige und läuft den gepflasterten Weg vor dem riesigen Botschaftstor entlang. Die Einheimischen jubelten ihnen zu, klatschten Hände ab.

Er wollte nur noch raus

In den Bussen entlud sich die ganze Anspannung. „Das kannst du vergleichen mit dem Ballermann“, sagt Hase und lacht. Als er in Praha-Liben, einem kleineren Bahnhof der Stadt, ankam, saßen bereits Hunderte im Eingangsbereich. Von vorne hörte er die Ansage, dass Frauen und Kinder in den ersten Zug einsteigen sollten. „In dem Moment war ich einfach egoistisch“. Mit einem Tunnelblick sei er losgerannt. „Mit 19 fühlte ich mich ja fast noch wie ein Kind.“ Er wollte nur noch raus, in den Westen, zu seinen Eltern. Dann saß er im Zug.

„Wollen Sie Kaffee oder Tee zum Frühstück?" Der Zugbegleiter reißt Hase aus seinen Gedanken, holt ihn zurück in die Gegenwart. Wieder sitzt er in Prag im Zug. Ein Vierteljahrhundert später. Wieder fährt er über Nacht. Doch dieses Mal heißt der Sonderzug City Night Line, statt eines überfüllten Waggons hat er ein Schlafabteil für sich alleine. Jens Hase fährt ohne Angst, dafür voller Erinnerungen. Mit jedem Blick aus dem Fenster kommen neue Bilder auf. Kleine Geschichten, die er bis ins Detail schildern kann. „Mir geht so vieles durch den Kopf“, sagt er. Fast entschuldigend. Noch will er nicht schlafen. Noch will er reden.... (weiter auf Seite 3)

„Ausweise!“ Grimmiger Blick, streng gescheitelte Haare, Lederjacke. Jens Hase erinnert sich noch genau an sein letztes Treffen mit der Stasi, den Vertretern des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie kamen mitten in der Nacht zur Ausbürgerung in den Zug. „Dass es Vollidioten sind, wissen wir. Das könnt ihr dann sagen, wenn ihr drüben seid“, hatte ein Diplomat zuvor zu ihnen gesagt. Hase hielt sich an den Ratschlag – fast. „Ich hab in meinem Ausweisbuch noch 70 DDR-Mark gefunden“, erzählt er. Ganz langsam habe er die Scheine gefaltet und vor den Augen des Offiziers aus dem Fenster geworfen. „Später bekam ich mit, dass ich damit eine Lawine ausgelöst hatte.“ Viele Flüchtlinge im Zug taten es ihm gleich. Die Stasi-Offiziere liefen mit versteinerter Miene weiter.

Trotz der Enge, der Anspannung und der Ungewissheit sei diese eine Nacht im Zug voller glücklicher Augenblicke gewesen. Der 44-Jährige taucht in seine Gedanken ab. Das monotone Rattern der Bahn nimmt er nicht mehr wahr. Vor seinem inneren Auge sieht er eine einschneidende Szene. Langsam und mit ruhiger Stimme erzählt er sie: Mitten in der Nacht erreichten sie Dresden, ein außerplanmäßiger Halt. Hase erinnert sich an einen DDR-Polizisten, der im Lichtkegel auf dem Bahnsteig stand, den Blick abgewandt. „Als wir weiterfuhren, hielt er seine Hand vor den Bauch. Er winkte uns heimlich zu.“ In diesem Moment habe er es gewusst: Es wird sich etwas ändern.

Flucht ohne Reue

25 Jahre ist dieser Augenblick her. Dankbar ist Hase noch immer. Nach verschiedenen Aushilfsjobs hat er in der Arbeit mit Jugendlichen seine Erfüllung gefunden. Dort kann er seine Geschichte erzählen, das Bewusstsein weitergeben. „Ich genieße jeden Tag in Freiheit“, sagt er. Seine Flucht habe er nie bereut – auch wenn kurz darauf die Mauer fiel. „Es lohnt sich immer, für seine Freiheit zu kämpfen.“

Es ist dunkel geworden. Wieder steht Dresden auf dem blauen Schild. Der Günzburger sitzt am Fenster – damals wie heute. Aber sein Blick ist ein anderer. Auf dem Bahnsteig stehen Raucher, nutzen die Fahrpause. Jens Hase verliert sich in seinen Erinnerungen. Erst das ruckelnde Anfahren des Zuges holt ihn zurück. Er blinzelt ein paar Mal, atmet lange aus. Dann spricht er: „Jetzt guckst du da raus und es gibt keinen Kommunismus mehr.“

 
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