Es begann als spannendes Auslandsjahr – und endete abrupt mit der Invasion russischer Truppen in die Ukraine: Die 16-jährige Luise Lange aus Würzburg musste Ende Februar ihren Aufenthalt in der russischen Millionenstadt Perm (etwa 1000 Kilometer Luftlinie nordöstlich von Moskau) abbrechen. Wie die Schülerin ihre Zeit in Russland erlebt hat.
Begonnen, Russisch zu lernen, hat Luise mit 14: "Ich mag Sprachen und wollte eine außerschulisch lernen", erklärt die Schülerin. Daraus entwickelte sich der Wunsch nach einem Auslandsjahr in Russland. Der erste Versuch 2020 scheiterte an Corona, im Oktober 2021 konnte es endlich losgehen. "Als Luise am Flughafen durch den Security-Check gegangen ist, musste ich tief Luft holen", erinnert sich Luises Vater, Bernhard Lange, an den Abschied. "Natürlich ist es ein komisches Gefühl, seine 16-jährige Tochter mehrere Tausend Kilometer weit weg von sich zu wissen", sagt er. "Ich habe Luise aber unterstützt: Der Aufenthalt ist ein Blick über den Tellerrand und ein großer Schritt in Richtung Selbständigkeit gewesen."
Austauschorganisation AFS vermittelt Vater und Tochter Sicherheit
In Perm wird Luise von der gesamten Gastfamilie vom Flughafen abgeholt – ein per WhatsApp geschicktes Bild vom herzlichen Empfang beruhigt Bernhard Lange: "Ich hatte damals das Gefühl, dass Russland ein stabiles Land ist, und habe darauf vertraut, dass Luise vor Ort und in der Familie gut aufgehoben ist." Auch die umfassende Betreuung durch die internationale Austauschorganisation AFS, die das Auslandsjahr organisiert hat, vermittelt Vater und Tochter Sicherheit.
"Wir Austauschschüler wurden in Perm sehr gut aufgenommen", sagt Luise. "Die meisten haben sich für uns interessiert und Fragen gestellt; bei Problemen gab es immer jemanden, an den ich mich wenden konnte." Und so lernt die 16-Jährige den russischen Alltag und viele neue Leute kennen. Drei Wochen nach ihrer Ankunft bricht sie mit Mitschülern zu einer fünftägigen Reise nach St. Petersburg auf. Luise findet schnell Kontakt zu ihrer Gastschwester, Mitschülern und den anderen Austauschschülern.
Welche Rolle hat in dieser Zeit der sich zuspitzende Konflikt in der Ukraine gespielt? "Das Ganze war in Russland weniger präsent als in Deutschland", glaubt Luise. Der Gastvater habe täglich Nachrichten über verschiedene Kanäle geschaut, "ich habe mir aber nicht die politischen Ansichten meiner Gasteltern darlegen lassen, das wäre komisch gewesen".
Als in Deutschland publik wird, dass die russischen Truppen zusammengezogen werden, sei dies in Russland in der Öffentlichkeit als "westliche Propaganda" abgetan worden. "Ich kann schwer beurteilen, wie viele Menschen in Russland welcher Meinung sind", sagt Luise. "Die, die mit mir in Kontakt sind, sind eher weltoffen." Ihre Gastmutter habe, wie viele in Russland, Familie in der Ukraine. "Kulturell und sprachlich sind sich Russland und die Ukraine sehr nahe", so Luises Eindruck.
Ihre Freunde hätten aufgepasst, keine systemkritischen Posts zu schreiben oder zu bloggen. Auch sei der Krieg in der Ukraine immer als "die Situation" umschrieben worden. Allgemein gelte: "Man muss vorsichtig sein", sagt Luise. "Am einfachsten ist es, weiter in die Schule zu gehen – und nicht auf Demonstrationen." In privaten Chats sei freie Meinungsäußerung ihrer Erfahrung nach noch kein Problem gewesen; auch der Zugriff auf gesperrte Internetseiten sei mit einigen einfachen Tricks, die den meisten bekannt seien, möglich.
"Ich habe die politische Entwicklung mit allergrößter Sorge beobachtet", erzählt Bernhard Lange, "der Kontakt zur Gastfamilie hat sich aber eher auf die persönliche Ebene konzentriert." Auch als sich die Situation zuspitzt, hält Lange sich zurück: "Ich wusste nicht, wie die Familie politisch denkt", sagt er, "wir haben auf Englisch um den heißen Brei herumgeredet." Kein einziges Mal sei in den Chats das Wort "Krieg" oder "Putin" gefallen. Bernhard Lange habe die Familie nicht in Schwierigkeiten bringen wollen, "man weiß nicht, wer mitliest". Seine Tochter aber warnt er, dass sie sich darauf einstellen solle, dass etwas Unvorhergesehenes geschehen könne.
Und so kommt es auch: Am 28. Februar, vier Tage nach Russlands Invasion in der Ukraine, trifft AFS International die Entscheidung, das Austausch-Programm mit Russland abzubrechen. Von Seiten der Organisation ist klar, dass die Sanktionen des Auslands zu einer Unterbrechung der Zahlungsströme führen wird – was Gastschüler und russische Gastfamilien in finanzielle Schwierigkeiten bringen kann. Zudem sorgen Reise- und Flugeinschränkungen für Unsicherheiten.
Trotz aller Unsicherheiten: Luise wäre gern in Russland geblieben
Gerade mal zwei Tage später ist Luises Rückflug angesetzt, "das Ganze war sehr überstürzt", erinnert sich Bernhard Lange. "Auch die Gastfamilie war bestürzt und hat wahrgenommen, dass gerade eine dramatische Entwicklung stattfindet." Luise kann sich noch von Familie und Schulfreunden verabschieden – ehe es direkt von der Schule aus zum Flughafen geht.
Traurig und geschockt sei sie gewesen, so die 16-Jährige. "Ich wäre gern geblieben – auch wenn der Abbruch des Programms sicher die richtige Entscheidung war." Ihr Vater hat fest mit der Entscheidung des AFS gerechnet. Bedenken hatte er trotzdem: "Es war klar, dass die Rückreise holprig werden würde."
Langes Eindruck bestätigt sich: In Moskau verpassen Luise und ein anderer Austauschschüler den Flieger nach Kairo um wenige Minuten. Nachdem die beiden mehrere Stunden am Flughafen Moskau festsitzen, ohne zu wissen wie es weitergeht, werden sie nachts von zwei ehrenamtlichen AFS-Mitarbeitern abgeholt, die sie privat unterbringen. Zwei Tage später geht es endlich weiter. "Es waren extrem anstrengende Tage, Luise war müde und aufgeregt", erinnert sich Lange. "Der Handy-Kontakt zu ihr ist manchmal für bis zu zehn Stunden abgebrochen."
In Kairo kann Luise endlich in das Flugzeug nach Frankfurt steigen. Dort erwartet sie ihr Vater, der sie erleichtert in die Arme schließt. "Natürlich bin ich froh, dass Luise wieder hier ist – ich bin aber zutiefst traurig, dass sich die Lage so entwickelt hat", so Lange. Durch die Gastfamilie und Luises Erfahrungen vor Ort seien ihm die Menschen und der Alltag in Russland sehr nahe gerückt.
Austausch von Mensch zu Mensch als wahrer Gewinn des Auslandsaufenthalts
Den Austausch "from people to people", von Mensch zu Mensch – ein Aspekt, den auch AFS in allen Programmen betont –, hält Lange für den wahren Gewinn von Luises Zeit in Russland. "Luise war in einer Gastfamilie, die ihr zur Familie geworden ist", sagt Lange. Er habe die russische Mentalität als empathisch, offen und interessiert wahrgenommen: "Luise ist dort mit offenen Armen empfangen und dazu gebracht worden, am sozialen Leben teilzunehmen."
Wieder in Deutschland, ist Luise mit ihrer Gastfamilie und ihren Freunden aus Russland in Kontakt und will sie wiedersehen. Auch ihren Russisch-Unterricht setzt die 16-Jährige fort; sie überlegt, ihre Sprachkenntnisse bei der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine einzubringen. "Die Zeit in Russland hat mich geprägt, es bleibt etwas", sagt Luise. "Eine neue Sprache und das Kennenlernen neuer Kulturen vergrößern die eigene Welt.". Ihr Appell: "Mehr Leute sollten überlegen, einen Schüleraustausch zu machen. Es gibt einem persönlich viel – und bringt etwas für den Frieden in der Welt."