Der gebürtige Bad Neustädter Tobias Weihmann ist Software-Entwickler und lebt seit 2015 in der Ukraine. Seine Frau Alya Shandra, Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenportals Euromaidan Press, ist Ukrainerin. Kurz nach Kriegsbeginn ist das Ehepaar nach Lwiw im Westen des Landes geflohen. Am Telefon spricht der 42-Jährige darüber, mit welcher Ideologie der russische Präsident Wladimir Putin den Krieg anheizt und welchen Konflikt er dahinter sieht.
Tobias Weihmann: Dieser Krieg ist kein ethnischer Konflikt. Putin spricht von der Unterdrückung der Russen. Doch das stimmt nicht. Viele Ukrainer sprechen ukrainisch und russisch. Viele haben Verwandte in Russland. Die Bruchlinie verläuft zwischen den Menschen, die sich an eine Diktatur anpassen, und denjenigen, die in einer Demokratie leben wollen.
Weihmann: Es sind vor allem ältere Leute. Sie sagen: Solange wir genug Geld zum Leben haben, kümmern wir uns besser nicht um Politik. Aber dieser Teil der Bevölkerung hat in den letzten Jahren stark abgenommen. Bei Kriegsbeginn Ende Februar lag laut Umfragen in der Ukraine die Unterstützung für den demokratisch gewählten Präsidenten bei rund 90 Prozent.
Weihmann: Nein. Es ist nicht Putin, der die Bomben abwirft. Es ist auch nicht Putin, der die Raketen startet. Das Ganze funktioniert nur, weil etwa 70 Prozent der Menschen in Russland den Krieg unterstützen. Auf dieses Ergebnis kamen zumindest zwei russische Meinungsforschungsinstitute Mitte März. Es gibt eine Ideologie, eine gewisse Massenhysterie in Teilen der russischen Gesellschaft innerhalb des Landes, dass man diesen Ukrainern jetzt eins auswischen müsse, weil sie sich nicht der großen russischen Zivilisation gefügt haben. Das sind gefährliche psychologische Mechanismen, so wie wir sie in Deutschland in den 1930er Jahren erlebt haben. Man darf nicht in die Falle tappen und sagen: "Ihr armen Russen seid genauso Opfer wie die Ukrainer."
Weihmann: Meine russischen Freunde wissen genau, was vor sich geht. In Russland sind fast alle reichweitenstarken Medien unter Kontrolle des Regimes. Seit Jahren werden Einkreisungsängste vom "bösen Westen" geschürt. Dazu gehört das Narrativ: "Alle sind gegen uns. Wir müssen jetzt zusammenhalten." Erst diese Ideologie erlaubt den Zivilisationsbruch, dass man Städte in Schutt und Asche bombt. Es wäre falsch, das zu verharmlosen. Wir müssen zu den europäischen Werten, zu den Menschenrechten stehen!
Weihmann: Es ist schwierig, aber möglich. Es gibt Apps zum Umgehen der Zensur und oppositionelle Internetseiten. Man kann mit Freunden sprechen. 20 bis 30 Prozent der russischen Gesellschaft wissen, was passiert. Wenn man darüber sprechen wollen würde, könnte man das tun.
Weihmann: Weil sie nicht wissen wollen, was passiert. In der Ukraine wird auf Krankenhäuser und Geburtskliniken geschossen. Ein Theater in Mariupol, auf dessen Vorplatz groß "Kinder" geschrieben war, wurde gezielt bombardiert. Wenn man so ein Bild in Russland im Internet sieht, ist es leichter zu sagen, das ist eine Lüge aus dem Westen, als sich die schreckliche Wahrheit einzugestehen.
Weihmann: Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich entscheiden, ob Sie Teil einer großen Gemeinschaft sind, die das Richtige tut und sich rächt. Dafür steht auch das "Z" wie Zorro, der Rächer. Sie sagen sich: "Wir sind Teil einer großen Atommacht, die dem Westen jetzt mal zeigt, wo es langgeht." Oder Sie müssten sich eingestehen, dass Sie in einem Land leben, in dem die Demokratie vernichtet wurde, in dem der Geheimdienst regiert und Menschenrechtsverbrechen in Ihrem Namen begangen werden. Wofür entscheiden Sie sich?
Weihmann: Familien brechen auseinander. Eine Freundin von mir aus Belarus ist nach Europa ausgewandert und hat ihren Eltern am Telefon erzählt, wie das Leben hier ist. Das wollten ihre Eltern nicht hören. Sie haben sie am Telefon angeschrien, sie solle aufhören, so einen Quatsch zu erzählen.
Weihmann: Putin hat gesagt: "Die Verräter der russischen Nation werden wir wie Mücken ausspucken." Er betrachtet die Ukrainer als Russen, die sich ihm nicht ergeben, die in ihrem eigenen Land leben und eine Demokratie aufbauen wollen. Es ist eine Warnung an alle russischsprachigen Menschen, die in Freiheit leben wollen.
Weihmann: Bekannte von mir wurden 2015 in Moskau verhaftet. Sie haben im Polizeiwagen die ukrainische Nationalhymne gesungen. Um zu sagen: "Ihr mögt uns ins Gefängnis schmeißen, aber in der Ukraine hat sich die Freiheit durchgesetzt." Die größte Gefahr für Putin ist, dass die Russen sagen: "Die Ukraine entwickelt sich wunderbar. Warum machen wir es nicht genauso? Russland kann auch ohne Putin."
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Weil sie sich profilieren konnten, weil ihnen das System gar nicht so schlecht gefiel, weil es ihrer eigenen Einstellung entgegen kam, weil sie es "endlich mal allen Volkssch*** zeigen konnten, weil sie gar nicht sehen/wissen wollten, was wirklich passierte.
Und natürlich viele einfach aus Angst. Denn wir heute wissen, wie es ausgegangen ist: Das "Dritte Reich" ist mit Krawumm untergegangen, die Verantwortlichen wurden zumeist ihrer gerechten Strafe zugeführt und Hitler ist nun als der gefährliche Irre bekannt, der er ja war.
In Russland weiß man noch nicht, wie es ausgeht, und die Bevölkerung benimmt sich deshalb nicht viel anders als wir damals vor 1945.