Das Leben ist ein Mosaik, ist Theodor Rejda überzeugt. Nach und nach finden alle Einzelteile zusammen und bilden ein großes Ganzes. Glück und Zufall spielen dabei eine wichtige Rolle, „ohne sie läuft im Leben nichts“, sagt Rejda, zudem sei eine gewisse Begabung von Nutzen. Das Mosaik, das das Leben des 81-Jährigen ausmacht, wird in weiten Teilen von Glück, Zufällen und Begabung bestimmt – und von einem Ereignis, das vor 50 Jahren weit mehr als die Geschichte der Tschechen und Slowaken prägte: der Prager Frühling.
Als Fluglotse erlebte Rejda die Besetzung des Prager Flughafens im August 1968 hautnah mit. Wenige Tage später floh der damals 30-Jährige über Österreich nach Deutschland. Vieles wurde ihm durch die Flucht genommen: seine Eltern, die berufliche Karriere, Freundschaften, Besitz. Mitnehmen konnte er seine kleine Tochter, drei Koffer – und seine zwei großen Leidenschaften: das Fliegen und das Schreiben. Letzterer verdankt der 81-Jährige, dass er die Ereignisse rund um den Prager Frühling ebenso detailliert wie bewegend wiederaufleben lassen kann. In seinem Haus in Sulzdorf, einem Ortsteil von Giebelstadt, begibt sich Theodor Rejda auf eine Zeitreise zurück ins Jahr 1968. Seit 1952 schreibt er auf, was ihn bewegt – jedem Jahr ist eine dicke Chronik gewidmet.
Die politischen Verhältnisse in der Tschechoslowakei prägen Rejdas Leben schon früh: Als 1948 die Kommunistische Partei KSC an die Macht kommt, wird Rejdas Vater, bis dato einflussreicher Direktor mehrerer Nähmaschinenfabriken in Prag, zum Buchhalter degradiert. Rejda bewirbt sich nach der Schule an der Kunstakademie, darf aber wegen des in Ungnade gefallenen Vaters nicht studieren. Über den einflussreichen Vater eines Freundes erfährt er von der Gründung einer elitären Militärschule. Rejda und sein Freund stellen sich dem Auswahlverfahren, Rejda besteht es, der Freund nicht. „Ironie des Schicksals“, sagt der 81-Jährige, und: „Die Militärschule hat mich gerettet.“ Dort wird er als 15-Jähriger nicht nur zum Radarmechaniker und –operator, – eine Art Vorläufer des Fluglotsen –, ausgebildet; auch sein soziales Ansehen ist wiederhergestellt, plötzlich steht er im System ganz oben.
In dieser Zeit nehmen die Chroniken, die er auch selbst illustriert, ihren Anfang. „Ich war nicht der Bravste“, erinnert sich Rejda und lacht. „Oft hatte ich Ausgangsverbot und hockte allein in der leeren Kaserne – da hab‘ ich meine Ideen aufgeschrieben.“ Nach drei Jahren Ausbildung und Diensten an verschiedenen Militärflughäfen beginnt Rejda 1959 am Prager Flughafen als Fluglotse zu arbeiten – in einer Epoche, die er als „schwärzeste Zeit“ bezeichnet: „Es gab viele Repressalien gegen Nicht-Kommunisten; alle hatten Angst vor der Armee.“ Im Beruf steigt er schnell auf: Mit 27 wird er jüngster Schichtleiter ("Senior Controller") in der Anflugkontrolle („Approach Control“), dem laut Rejda wichtigsten Bereich der Flugsicherheit.
1968, im Jahr des Prager Frühling, rumorte es in der ganzen Welt, die Unzufriedenheit mit den Herrschenden war groß, erinnert sich der 81-Jährige. In der Tschechoslowakei sorgten der dogmatische Führungsstil der KSC und schlechte Lebensbedingungen dafür, dass „die Wut und der Hass der Bevölkerung gegen die Partei wuchs – man war wie im Fieber“, so Rejda. Anfang 1968 musste der damalige Staatspräsident Antonín Novotný seinen Posten als Erster Parteisekretär an Alexander Dubcek abgeben, der einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" anstrebte. Über diesen Beginn der Reformbewegung, den Prager Frühling, schreibt Rejda in seiner Chronik: „Die Nachricht ist bei uns explodiert wie eine Bombe. Hier hat etwas angefangen. Was, konnten wir noch nicht wissen.“
Am Vorabend des gewaltsamen Endes des Prager Frühlings, dem 19. August 1968, ist der 30-Jährige am Flughafen für den Nachtdienst eingeteilt. Während seiner Schicht treten Ungereimtheiten und Auffälligkeiten auf. „Es liegen viele Gerüchte in der Luft“, so Rejda in seinen Notizen. Die Nacht vom 20. auf den 21. August, in der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei einrücken, erlebt er in seiner Wohnung. Begleitet von lauten Motorengeräuschen und dem Lärm von Panzern, kniet sein damaliges Ich am Fenster, sieht das Blinken unzähliger roter Lichter von Flugzeugen in der Luft, die sich in Richtung Militärflughafen bewegen und begreift: Prag ist okkupiert.
Rejda und ein Kollege kehren in die Anflugkontrolle zurück, um die dortigen wertvollen Gerätschaften vor Diebstahl zu schützen. Einen Tag und eine Nacht verbringen die beiden in der Approach Control, zum Schutz sperren sie sich ein. „Die Radare sind blind, die Radios taub, die Jalousien heruntergelassen. Der Flughafen ist stumm.“ Beim Lesen der Zeilen über 50 Jahre später hat Rejda Tränen in den Augen. Als er damals den Flughafen verlässt, weiß er bereits, dass er nicht zurückkehren wird.
Die Tage bis zu seiner Flucht erlebt Rejda wie in Trance; dass er gehen muss, steht für ihn zu keiner Zeit in Frage. „In Prag wird geschossen. Es gibt die ersten Toten“, liest der 81-Jährige. Panzer bestimmen das Stadtbild, die Bedrohung ist allgegenwärtig. „Hier will ich nicht sein“, so das Fazit des 30-jährigen Rejda. Eine vermeintlich schwer kranke Tante in Deggendorf dient ihm als Begründung für die Beantragung eines begrenzten Visums.
„In ein paar Stunden muss ich los. Was soll ich mitnehmen? Ein paar Bücher, Unterhosen, das war’s. Ich denke nicht, dass ich zurückkomme.“ Beim Anblick seiner Uniformen im Schrank wird Rejda von Wehmut gepackt: „Ob ich in meinem Leben je wieder mit Flugzeugen zu tun haben werde?“ Seine Chroniken verpackt er in einem Karton, den er bei der Schwester versteckt; den Eltern schreibt er einen Abschiedsbrief. „Für Trauer gibt es keine Zeit“, liest Rejda mit brüchiger Stimme.
Am 28. August sitzt Rejda mit seiner einjährigen Tochter und der Familie seiner Frau im Schnellzug von Prag nach Wien. „Der Zug setzt sich in Bewegung, sehr viele Leute weinen. Ich darf nicht denken, bloß nicht denken.“ Da Rejda Angst hat, dass seine Zeugnisse und Dokumente im Gepäck den wahren Hintergrund seiner Reise verraten könnten, wirft er sie nach und nach aus dem Zugfenster, „nur die wichtigsten habe ich behalten.“ Für die meisten im Zug bedeutet die Fahrt eine Reise in eine ungewisse Zukunft, ein neues Leben – eine Tatsache, die allen bewusst ist. Als die Schaffnerin das Visum der Familie überprüft, sagt sie: „Sie besuchen Ihre Tante im Krankenhaus? Ich wünsche Ihnen ein schönes Leben.“ Beim Zwischenhalt auf einem Bahnhof rufen Zöllner den Reisenden zu: „Fahren Sie nicht alle weg – wer bleibt denn noch hier?“ Als der Zug die Landesgrenze passiert, notiert Rejda: „Hier endet das Land, das mein Vaterland war.“
Reise in eine ungewisse Zukunft
Von Wien geht es nach Deutschland, von dort versucht Rejda, nach Amerika weiterzureisen, doch dieser Traum platzt. In Sachen Beruf ist erneut das Glück auf Rejdas Seite – schnell findet er im Bereich der Flugsicherheit Arbeit. Viele Jahre arbeitet er auf den US-Flugplätzen in Mannheim und Heidelberg, ehe er auf dem Flugplatz in Kitzingen für die neu eröffnete Anflugkontrolle als Approach-Lotse angefragt wird. Als die Einheit von Kitzingen nach Giebelstadt verlegt wird, zieht Rejda mit und bildet vor Ort Fluglotsen aus.
1981 hat sich Rejda mit seiner zweiten Frau in Giebelstadt niedergelassen, 1989 kehrt er – 21 Jahre nach seiner Flucht – das erste Mal nach Prag zurück. Seitdem reist er wieder regelmäßig in die alte Heimat. „Prag ist mein Zuhause“, sagt der 81-Jährige mit Wehmut in der Stimme. Seiner zweiten Heimat, Deutschland, und insbesondere Giebelstadt und dem Flugplatz, fühlt sich Rejda trotzdem verbunden. „Mein Beruf war meine Berufung, meine Liebe“, sagt er. Er sei der einzige von insgesamt vier Prager Ex-Kollegen, der nach dem Prager Frühling als Fluglotse habe weiterarbeiten können. „Dafür bin ich dankbar.“