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Würzburg
Artensterben: "Uns geht etwas Großes verloren"
Brauchen Bienen und Schmetterlinge unsere Hilfe? Wie dramatisch ist das Insektensterben wirklich? Der Würzburger Ökologe Jörg Müller, erklärt, was am Schwund dran ist.
Jörg Müller, stellvertretender Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald und Professor am Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie an der Universität Würzburg,
Foto: Müller | Jörg Müller, stellvertretender Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald und Professor am Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie an der Universität Würzburg,
Manuela Göbel
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:49 Uhr

Unter dem Titel „Artenvielfalt und Naturschönheit in Bayern – Rettet die Bienen!“ hat die ÖDP ein Volksbegehrenauf den Weg gebracht, um den Naturschutz zu verbessern. Die Initiatoren und ihre Bündnispartner wollen das Insektensterben stoppen und auch andere Tier- und Pflanzenarten schützen. Ist die Situation wirklich so dramatisch und brauchen Insekten unsere Hilfe zum Überleben? Jörg Müller, stellvertretender Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald und Professor am Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie an der Universität Würzburg, erklärt die Zusammenhänge.

Insektensterben klingt dramatisch. Wie beurteilt ein Wissenschaftler die Situation?

Professor Jörg Müller: Einen Rückgang von Insektenarten und auch -masse beobachten Wissenschaftler schon länger. Medien und Politik wurden auf das Thema 2017 durch eine Studie des wissenschaftlichen Vereins Krefelds aufmerksam. Die Forscher haben in einer Langzeitstudie beobachtet, dass die Biomasse der Fluginsekten, die an 160 Standorten gesammelt wurden, in 27 Jahren um 76 Prozent zurückgegangen ist.

Das heißt, wenn 1989 in den aufgestellten Fallen pro Tag 100 Gramm Insekten gefangen wurden, waren es 2016 nur 24 Gramm. Lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass sowohl die Anzahl der Individuen als auch die der Arten so drastisch zurück gehen, dass man von Insektensterben sprechen kann?

Müller: Es gibt genügend wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass die biologische Vielfalt an vielen Orten der Welt drastisch zurückgeht. Das Problem ist, dass die Ursachen so komplex sind, angefangen von Veränderungen in der Landnutzung bis zum Klimawandel, der je nach Region die Artenvielfalt reduziert oder sogar erhöht. Dass die Intensivierung der Landwirtschaft für viele Arten zum Verhängnis wird ist seit langem bekannt und an Arten wie Rebhuhn, Feldlerche oder Hamster einfach festzumachen. Dass jetzt der Fokus auch auf Insekten gerichtet wird ist überfällig, da sie nicht nur schön sind wie die Tagfalter, sondern auch viele wichtige Funktionen in der Natur übernehmen.

Auch nach einer Autofahrt kleben heute viel weniger Insekten an der Windschutzscheibe als früher. Ist das ein aussagefähiges Kriterium?  

Müller: Diese Antwort ist nicht so einfach. Parallel zur Intensivierung in der Landwirtschaft ist es wärmer geworden und die Autos sind aerodynamischer geworden. Aktuell wird aber versucht mit Oldtimern zu testen welche Folgen die Form des Autos auf die Zahl der toten Insekten hat.

Warum ist das Verschwinden von Insekten ein Thema? Auf Schnacken, Wespen und Schmeißfliegen können viele Menschen gut verzichten.

Müller: Dennoch spüren viele, dass uns etwas Großes verloren geht, wenn Natur verschwindet. Wir empfinden ja nicht nur Kunst als schön, auch die Schönheit der Natur berührt uns. Bei Insekten fasziniert uns gerade die Schönheit von Schmetterlingen und Käfern schon seit Jahrhunderten. Aber mit den Insekten verschwinden natürlich auch insektenfressende Tiere, wie Vögel, die uns mit ihrem Gesang erfreuen. Abseits der Emotionen ist aber nüchtern festzuhalten, wenn die Artenvielfalt abnimmt, nimmt die Leistungsfähigkeit unserer Ökosysteme ab. Das müssen wir auch aus Eigennutz verhindern.

Weil wir Bienen brauchen, damit unsere Obstbäume bestäubt werden?

Müller: Das tut nicht nur die Honigbiene. Auch Wildbienen, Schwebfliegen und viele andere Insekten bestäuben 75 Prozent aller weltweiten Nutzpflanzen. Und 95 Prozent aller Wildflanzen. Aber auch auf Erosion, Wasser- und Bodenqualität wirkt sich Artenvielfalt positiv aus. Ein spektakuläres Beispiel sind Rinder in Australien. Diese führte der Mensch dort ein, vergaß aber die Dungkäfer mitzubringen. Da diese Insekten zum Mist abbauen fehlten, war das ganze Land mit Kuhfladen bedeckt. Australien führte später dann 150 Dungkäferarten ein, von denen einige sich etablierten und inzwischen den Job machen.

Nur für wenige Insekten Lebensraum: ein Rapsfeld 
Foto: Frank Weichhan | Nur für wenige Insekten Lebensraum: ein Rapsfeld 
Welche Ursache hat das Insektensterben?

Müller: Hier gibt es bisher keine einfache monokausale Antwort. Wir erfahren immer mehr über direkte aber auch subtile Negativfolgen von Pflanzenschutzmitteln auf Insektiziden. Bis in die 1950er Jahre hat man den Buchdrucker im Fichtenforst noch mit Arsen bekämpft aber eben auch Säugetiere damit vergiftet. Das danach aufkommende DDT war wesentlich spezifischer. Leider ergab sich später, dass DDT sich der Nahrungskette anreichert und Arten wie den Fischadler stark getroffen hat. Heute sind es Neonicotinoide, über deren Kollateralschäden immer mehr Erkenntnisse auftauchen. Aber auch deren Verbot in der EU wird die Bienen nicht retten. Denn entscheidender ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Verlust an artenreichen Lebensräumen. Riesige Raps und Maisfelder bieten nur sehr einseitig Lebensraum für wenige Insektenarten.  

Wenn Auenwälder, Moore oder Trockenrasen verschwinden, verschwinden mit ihnen die jeweils auf dieses Biotop spezialisierten Arten. Wenn man Teile dieser Lebensräume erhält, rettet man diese?

Müller: Es kommt auf die Größe an. Denn auf den winzigen Inselchen in unseren Monokulturen gibt es von einer Art nur wenige Individuen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit , dass ein plötzliches Ereignis, wie Dürre oder ein Pestizideintrag durch Winddrift die gesamte Population aussterben lässt. Geschützte Arten in solchen kleinen Resthabitaten nennen wir deshalb "lebende Toten". Wie eine Studie einer kanadischen Forscherin jüngst zeigte, ist die Menge an geeignetem Lebensraum in einer Region hier das wichtigste, noch wichtiger als die direkte räumlich Nähe.

Nützlich, nicht nur als Lebensraum für Insekten, sondern auch als Mittel zur ökologisch-sanften Schädlingsbekämpfung? Ein Blühstreifen an einem Maisfeld.
Foto: Patrick Pleul | Nützlich, nicht nur als Lebensraum für Insekten, sondern auch als Mittel zur ökologisch-sanften Schädlingsbekämpfung? Ein Blühstreifen an einem Maisfeld.
Helfen Blühstreifen an Äckern den Insekten?

Müller: Dieser Frage gehen mein Kollegen an der Universität Würzburg nach. Sie können zeigen, dass Blühstreifen dauerhaft Lebensräume für räuberischer Insekten darstellen, die wiederum helfen, die Schädlinge in Rapsfeldern zu reduzieren.

Wie sieht es im Wald aus?

Müller: Insgesamt sind die Insektenpopulationen dort stabiler. Die härtesten Artenverluste in Wäldern fanden vor 150 Jahren statt, als moderne Forstwirtschaft auf hochproduktive Nadelholzforsten umgestellt hat. Inzwischen steigt das Totholz und auch alte Bäume erfahren mehr Wertschätzung. Allerdings gibt es auch im Wald Defizite. Besonders lichte Phasen in Wäldern sind selten, da die meisten Wirtschaftswälder, mittelalt und mitteldicht sind. Uraltbäume sind ebenfalls weiterhin selten. Der Klimawandel führt in Wäldern zu immer mehr Stürmen oder auch Massenvermehrungen von Borkenkäfern oder Schwammspinnern. Eigentlich gut für die Artenvielfalt, aber natürlich lästig für den Waldeigentümer. Hier abgewogene Strategien zwischen Artenvielfalt und Ökonomie zu finden ist weiterhin eine Herausforderung.

Die Umstellung aller staatlichen Agrar- und Forstflächen auf eine ökologische Bewirtschaftung ist eine Forderung des Volksbegehrens. Außerdem soll der Anteil von biologischer Landwirtschaft von zehn auf 30 Prozent steigen und mehr Flächen unter Schutz gestellt werden. Lässt sich so das Insekten- und Artensterben stoppen, oder ist es schon zu spät?

Müller: Vieles ist noch umkehrbar. Wir müssen uns aber klar machen, dass es nicht die Produzenten von Holz oder Mais sind, die die Intensivierung erzwingen, sondern wir Verbraucher selbst. So lange wir immer weniger für Nahrungsmittel ausgeben und einer naturverträglichen oder auch tierschutzgerechten Produktion so wenig Gewicht beimessen, so lange wird sich nichts ändern. Hier braucht es einen gesellschaftlichen Umschwung.

Bringt es etwas, wenn das nur in Bayern passiert?

Müller: Je mehr Regionen mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen,dass es geht umso besser. Im Vergleich zu vielen Krisenregionen der Erde, wo Menschen um ihr Leben bangen und um ihre Existenz kämpfen haben wir viele Freiheitsgrade etwas zu ändern. Wir müssen aber auch Mehrheiten dafür finden.

Jörg Müller ist seit 2016 Professor für Tierökologie und Leiter der Ökologischen Station an der Uni Würzburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Waldökologie, ökologische Konzepte im Naturschutz und Totholzökologie. Der 45-Jährige hat Forstwissenschaft an der TU München studiert, war in der Bayerischen Staatsforstverwaltung tätig und forschte an der Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) in Freising. Ab 2006 war er als Zoologe in der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald und ab 2010 als Privatdozent am Lehrstuhl für terrestrische Ökologie der TU München tätig. Seit 2013 ist Müller stellvertretender Leiter der Nationalparks Bayerischer Waldsowie Leiter des dortigen Sachgebiets für Naturschutz und Forschung.

 
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