Die Grundlagen dieses Artikels sind die persönlichen Aufzeichnungen von Alois Scholl über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und ein Gespräch, das Erhard Scholl, Autor der Main-Post Gerolzhofen, mit Alois Scholl geführt hat. Die beiden sind Brüder.
Alois Scholl wuchs auf in Laufach (Landkreis Aschaffenburg), einem Ort mit heute etwa 3200 Einwohnern. Die Eltern des heute 90-Jährigen betrieben dort eine kleine Nebenerwerbs-Landwirtschaft. Die Mutter versorgte den Haushalt, der Vater arbeitete als Modellschlosser im Eisenwerk Düker. Alois Scholl erinnert sich gerne an die sechs aktiven Musikanten, die in der Nachbarschaft wohnten: Trompete, Saxophon, Geige, Tenorhorn waren immer zu hören, und Alois hörte ihnen gerne zu, die Musik begleitet ihn durchs Leben.
Schmerzhafte Verluste
Ein jäher Einschnitt war der Herzinfarkt-Tod seiner Mutter im Juli 1939 - die Familie war geschockt, der Verlust schmerzte sehr. Und dieses Jahr sowie die folgenden sollten weitere harte Einschnitte bringen. Ein zweites Verlusterlebnis schildert Scholl so: Im Sommer 1939 mussten die Bauern ihre Pferde einem Militärveterinär vorstellen, die besten Tiere wurden für den Kriegseinsatz ausgesucht – so auch "Fuchs", ein Pferd seines Onkels Hermann. Alois musste schweren Herzens Abschied nehmen von "Fuchs", den er sehr lieb gewonnen hatte und auf dem er oft reiten durfte. Ein paar Tage später gab es laut Alois Scholl noch einen weiteren schmerzlicher Abschied: Der langjährige Lederlieferant von Großvater Egid war gekommen, um sich zu verabschieden. "Er saß an unserem Esstisch und weinte", erinnert sich Alois. Egid war selbständiger Schuhmachermeister. Herr Levi, so hieß der Lederhändler, war Jude. "Es war sein letzter Besuch bei uns, wir haben nie wieder etwas von ihm gehört."
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Alois' Vater heiratete wieder, die Großmutter mütterlicherseits hatte in der Zwischenzeit die Familie versorgt. Im Verlauf des Krieges war ein junger, gehbehinderter Pole der Schuhmacherei zugeteilt worden. "Ein Kunde von Opa sah den jungen Polen an unserem Mittagstisch sitzen und sprach meinen Opa barsch an: ,Wie kannst Du den Polen mitessen lassen !' - ,Wer mit mir schafft, isst auch mit mir, und außerdem macht er eure Schuhe, sonst könnt ihr barfuß laufen', war die beherzte Antwort von Opa Egid", erinnert sich Alois Scholl.
Mit elf Jahren zur Hitlerjugend
Religionsunterricht erteilte zu dieser Zeit Pfarrer Engelbert Weigand. Er war in der Zeit von 1926 bis 1928 Hauptschriftleiter des Fränkischen Volksblattes gewesen, stand dem Nazi-Regime laut Scholl kritisch gegenüber, hatte sich auch in einigen Predigten kritisch geäußert. Häufig hätten "Spione" in den Gottesdiensten gesessen und seine Predigten mitgeschrieben. Alois Scholl war im Alter von zehn Jahren Ministrant geworden. Mit elf Jahren wurde man zwangsweise in die Hitlerjugend aufgenommen. Bei der Hitlerjugend waren die Ministranten nicht gern gesehen, ",Messdiener, dreckiger' - das bekamen wir Ministranten öfter zu hören", erinnert sich Alois Scholl.
Der Krieg rückte immer näher: In der Schule wurden Luftschutzmaßnahmen eingeführt. In allen Häusern mussten die Speicher ausgeräumt werden, Eimer mit Sand und Wasser mussten aufgestellt werden, um Brandbomben löschen zu können. Die Keller wurden als Luftschutzräume eingerichtet. "Die Mauern in unserem Keller waren drei Meter dick – da waren im Alarmfall viele Nachbarn mit uns im Keller. Wir lagerten auf Kartoffeln und Rüben, die notdürftig mit Stroh abgedeckt waren, und bangten, bis die Schrecken vorüber waren" erinnert sich Alois Scholl. 1940 war der erste Soldat aus Laufach gefallen. "Immer mehr Männer wurden einberufen, es waren Väter und Brüder von Mitschülern und Freunden – die Sorge um ihr Leben wurde immer größer," erklärt der 90-Jährige.
Bombenangriffe auf Aschaffenburg
Der Vater von Alois Scholl, dienstverpflichtet bei der Freiwilligen Feuerwehr, leitete zu dieser Zeit einen Löschtrupp mit sechs Feuerwehrleuten. Der Löschtrupp wurde oft bei Bränden nach Bombenangriffen auf Aschaffenburg eingesetzt. "Sie müssen Schreckliches gesehen und mitgemacht haben. Unser Vater erzählte nie davon, nur einmal schilderte er, wie er eine Frau völlig verzweifelt angetroffen hatte, die ihren Mann und alle ihre Kinder im Bombenhagel von Aschaffenburg verloren hatte", sagt Alois Scholl.
Allein in der unmittelbaren Nachbarschaft der Familie Scholl waren vier Familienväter vermisst oder gefallen, alle im letzten Kriegsjahr 1945. Elf Kinder aus der Nachbarschaft verloren ihre Väter. "Als Ministranten mussten wir nun immer öfter beim Requiem für die Gefallenen ministrieren", erinnert sich der Zeitzeuge.
Särge bauen für die gefallenen Mitschüler
Am 1. April 1944 hatte er eine Schreinerlehre begonnen. Die Schreinerei, bei der er lernte, war die einzige Schreinerei in den drei Orten Laufach, Hain und Frohnhofen, die Särge herstellte. "Als Schreinerlehrlinge mussten wir auch beim Einsargen in den Wohnungen mithelfen. Das war für uns zwei Lehrlinge nicht einfach. Und immer häufiger standen Namen von gefallenen Mitschülern auf den Tafeln, die an den Birkenholzkreuzen angebracht wurden", sagt Alois Scholl.
Auch vor ihm als damals 15-Jährigen machte der Krieg nicht halt: Am 12. September 1944 wurde er mit anderen Jugendlichen aus dem Jahrgang 1929 aus dem Landkreis Aschaffenburg an die Westfront eingezogen. Mit Schaufel, Pickel und Spaten mussten die Jugendlichen bei Wind und Wetter Panzergräben ausheben. Einige Wochen später wurden sie zurückbeordert, die Front war zu nahe gerückt. Im Hauptbahnhof Saarbrücken gab es Fliegeralarm. Als sie aus dem Bunker kamen, in dem sie gerade noch untergekommen waren, war der Bahnhof fast vollständig zerstört, der Zug total ausgebrannt.
Alois Scholl war fortan als Schreiner im stark zerstörten Aschaffenburg eingesetzt, er musste unter anderem mithelfen, die zerbrochenen Fenster und Türen des Aschaffenburger Schlosses notdürftig mit Brettern zuzunageln.
Die Front rückt immer näher
Derweil kam die Front immer näher. Mit seinem Vater baute er eine Hütte im Familiengarten am Ortsrand, Vorräte und Decken für den Notfall waren dort gelagert. Im Februar 1945 musste Alois Scholl seinen Schilderungen zufolge mit zwei Schulkameraden zu einer "Kampfübung" antreten. Hierbei versuchte ein SS-Unteroffizier sie als Freiwillige für die SS zu gewinnen. Der Vater eines Schulfreundes hatte ihnen vorher den – vielleicht lebensrettenden - Tipp gegeben, sich freiwillig zu einer anderen Waffengattung zu melden. So entgingen sie der SS. Die Einberufung drohte trotzdem. Großvater Egid hatte aber schon vorgesorgt: Er hatte für seinen Enkel ein Versteck im Wald gesucht, allerdings Alois' Vater nichts davon gesagt. Ende April 1945 rückten schließlich die Amerikaner in Laufach ein, die Angst hatte ein Ende.
In der Zeit nach dem Krieg ging Alois Scholl erfolgreich seinen Weg. Die Musik war hierbei für ihn ein wichtiger Lebensbegleiter. "Mir machte das Trompetenspielen richtig Spaß, ich nutzte jede freie Minute zum Üben", erinnert sich Alois Scholl. Er spielte in verschiedenen Musikkapellen mit, lange Zeit war er auch Dirigent der Musikkapelle Laufach. Mit Blick auf schwierige und ungewisse Zeiten, die viele Menschen immer wieder erfahren müssen, zieht Alois Scholl einen Vergleich zur aktuellen Corona-Krise: "Man kann nur durch gegenseitige Hilfe und Rücksichtnahme solche Zeiten überstehen. Diese Wahrheit haben wir in der Kriegszeit erfahren. Ich hoffe, dass wir alle zu dieser Einsicht gelangen. Mir half die Musik über die Tagessorgen hinweg. Dafür bin ich sehr dankbar."