In loser Folge wollten wir über die Erlebnisse der älteren Mitbürger berichten, die sich noch an die Zeit während des Krieges und nach dem Krieg erinnern können. Ihre Berichte, wie sie in der damaligen Krisenzeit, die von Angst und Ungewissheit gekennzeichnet war, aber auch von Mut und Entschlossenheit, den Herausforderungen der Krise zu begegnen, können uns Mut machen, in der Corona-Krise Mut und Kreativität zur Gestaltung des eigenen Lebens zu entwickeln – trotz all der Sorgen und Ungewissheiten, die Corona verursacht. Elsa Nickel erinnert sich an diese Zeit.
Elsa Nickel ist im Jahr 1925 geboren und feierte im März ihren 95. Geburtstag. Sie lebt in einem Altenheim, coronabedingt konnte das Gespräch mit ihr nur per Telefon geführt werden. Elsa Nickel hatte einige Erinnerungen an die Zeit im und nach dem Krieg schriftlich übermittelt. Diese schriftlichen Erinnerungen waren Ausgangspunkt des Gesprächs.
Elsa Nickel: Der Krieg begann am 1. September 1939. Das war ein Freitag. Ich stamme ja aus Waldbrunn, zusammen mit meiner Mutter war ich zu Besuch bei ihrer Schwester, meiner Tante in Kist. Wir waren zu Fuß unterwegs. In Kist hörten wir in den Nachrichten, dass der Krieg begonnen hatte. Wir mussten den Weg – ungefähr fünf Kilometer - natürlich wieder zu Fuß zurücklegen. Der Weg führte durch den Wald, und ich erinnere mich noch, dass wir große Angst hatten. Wir liefen nebeneinander her, ohne dass wir ein Wort miteinander sprachen. Meine Mutter war politisch interessiert, sie ahnte vielleicht schon, wie viel Leid auf die Menschen zukommen würde. Während des Krieges arbeitete ich in einer Munitionsfabrik in Würzburg. Je mehr absehbar war, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, umso mehr hatte ich Angst, mit dem Fahrrad nach Würzburg zu fahren.
Nickel: Wir hatten eine kleine Landwirtschaft von etwa zwei Hektar, die wir als "Feierabendbauern" betrieben, das heißt, mein Vater ging auf die Arbeit im Wald und im Steinbruch. Unsere Mutter und wir Kinder mussten den Haushalt und die kleine Landwirtschaft versorgen, wenn er von der Arbeit kam, musste alles fertig sein, dass wir gleich auf den Acker fahren konnten und die Feldarbeit erledigen. Wir hatten ein Kuhgespann, mit dem alle Feldarbeit erledigt wurde, und natürlich gab es noch keine Maschinen, sodass viel Handarbeit nötig war.
Ich ging aber trotzdem noch auf die Arbeit, nach dem Krieg schaute ich mich um, fand immer wieder Beschäftigungen in Gelegenheitsarbeit. So arbeitete ich in einer Baumschule, in einer Gärtnerei, in einer Kräuterfabrik. Ich bin heute noch dem damaligen Gemeindeschreiber von Waldbüttelbrunn dankbar, der mir riet: "Wenn Du irgendwo arbeitest, lass Dich anmelden !"
Schließlich, im Jahr 1950, bekam ich eine Stelle im Bürgerspital. Da arbeitete ich viel in den Weinbergen, oft in der Nähe von Veitshöchheim. Natürlich musste ich alle Wege mit dem Fahrrad zurücklegen.
Nickel: Ich kann mich noch gut erinnern, dass mich meine Mutter mit der Schüssel losschickte, um Rollmöpse oder Bratheringe einzukaufen. Die waren in einem Fass vorrätig im Laden, und wurden lose über den Ladentisch in die Schüssel gefüllt. Reis, Gries wurden jeweils aus einem großen Sack in Tüten gepackt und abgewogen. Zum Einkaufen beim Metzger gab mir meine Mutter eine Mark mit und sagte: "lass Dir für eine Mark abschneiden – mehr darf es nicht kosten!". Schokolade kannten wir natürlich nicht, auch Bohnenkaffee war nicht bekannt. Wir stellten den Röstkaffee selbst her aus Getreide.
Nickel: Da gab es – an heutigen Verhältnissen gemessen - wenig: Der Osterhase brachte ein paar Eier, das Christkind nur kleine Geschenke. Geld war damals, wie gesagt, knapp.
Nickel: Ich kann mich noch gut erinnern an die Bombardierung. Waldbrunn ist ja ungefähr 15 Kilometer von Würzburg entfernt, wir hörten die Bomber heranfliegen und sahen auch den Feuerschein von der brennenden Stadt. Wir machten uns Sorgen um unsere Angehörigen: Zwei Geschwister meiner Mutter mit ihren Familien lebten in Würzburg. Würden Sie diesen Brand überleben ?
Wir waren erleichtert, dass am Tag nach der Zerstörung Würzburgs unsere Angehörigen mit ihren Familien zu uns nach Waldbrunn kamen. Ihre Häuser waren ausgebombt, aber sie hatten alle überlebt, und suchten jetzt Unterkunft bei uns. So lebten wir mit 16 Personen in unserem nicht allzu großen Haus. Im Wohnzimmer und anderen Räumen wurden Strohsäcke ausgebreitet, damit alle einen Schlafplatz hatten. Im Dorf gab es eine Kelterei. Dort waren große Kessel aufgestellt, und alle, die aus Würzburg Zuflucht in Waldbrunn gefunden hatten – unsere Verwandten waren nicht die einzigen – wurden dort verpflegt, konnten ihr Essen dort abholen.
Nickel: wir mussten jeden Tag in die Kirche gehen, das war selbstverständlich. Die Schule war direkt neben der Kirche, so brachten wir unsere Schulranzen in die Schule, und dann ging es in die Kirche. Sonntags natürlich in den Gottesdienst und die Nachmittagsandacht, anschließend war Christenlehre – eine Art Unterricht für alle über den Glauben. Pfarrer Fröhlich, der 40 Jahre Seelsorger in Waldbrunn war, machte seinem Namen alle Ehre, er konnte aber auch sehr streng sein. Für mich war es eine besondere Ehre, dass ich in der Klasse immer aus einem Buch vorlesen durfte – er hatte mich in sein Herz geschlossen.
Nickel: Mein Bruder hatte die Idee, eine Heiratsanzeige aufzugeben, ich war zunächst nicht so sehr dafür, dies zu tun, stimmte aber dann doch zu. Meinem späteren Mann Gregor, einem gebürtigen Gernacher, gefiel diese Anzeige offensichtlich, er nahm Kontakt zu mir auf. Er war mit 19 Jahren zur Wehrmacht eingezogen worden, geriet im Krieg in russische Gefangenschaft und kehrte erst zehn Jahre später, 1954 aus russischer Gefangenschaft zurück. Das war im März 1954. Im August 1954 heirateten wir – schnell entschlossen. "Der Krieg hat mir zehn Jahre meines Lebens gekostet" – das sagte er öfter. Ich habe diesen doch recht schnellen Schritt in die Ehe mit ihm nie bereut. Wir haben uns gut verstanden, auch wenn wir es nicht leicht hatten: die kleine Landwirtschaft in Gernach, die Schmiede, die mein Mann betrieb und die Sorge um die drei Söhne verlangten meinem Mann und mir schon viel ab.
Nickel: Ich bin von Grund auf ein optimistischer Mensch, lasse mich nicht so leicht unterkriegen. Von meiner Mutter habe ich geerbt, mich für Vieles zu interessieren, offen und aufgeschlossen gegenüber anderen Menschen zu sein. Das Gespräch hilft, dass Schweres leichter wird. Auch der Glaube war und ist mir eine wichtige Quelle der Kraft. Und, nicht zuletzt: ich bin froh, dass unsere drei Kinder ihren Weg gehen – jeder auf seine Weise.