Wie lange die Speisekarte bereits in einem Karton auf dem Dachboden des Alten Rathauses in Gerolzhofen geschlummert hat, weiß kein Mensch. Wie das gefaltete Papierstück im Format 40 mal 43 Zentimeter dorthin kam, dürfte ebenfalls im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben, denn ein direkter Bezug zur Gerolzhöfer Stadtgeschichte ist von dem über 100 Jahre alten Stück nicht abzuleiten. Die Speisekarte gehört zu dem "Herrenkeller", einem Weinrestaurant mit über 500-jähriger Geschichte in Nürnberg.
"Ein lokalhistorisches Interesse ist da beim besten Willen nicht herzuleiten", meint Bertram Schulz. Dennoch hat er als ehrenamtlicher Museumsleiter die auf das Jahr 1909 datierte Speisekarte nicht einfach beiseite gelegt oder gar weggeworfen, als ihm diese vor einiger Zeit beim Sichten des Inhalts des besagten Kartons in die Hände fiel. Er forschte nach, was es mit der grafisch kunstvoll gestalteten Speisekarte auf sich hat.
Pächter ist vom Fund begeistert
Und siehe da: Im Internet fand Schulz schnell heraus, dass es den "Böhm's Herrenkeller" in der Frankenmetropole Nürnberg bis heute noch gibt. Selbst die Anschrift passt nach wie vor mit der auf der alten Speisekarte überein: Theatergasse 19.
Also schickte Schulz an den heutigen Pächter, Alexander Korotynsky, eine E-Mail. In dieser schilderte er, wie er zu der alten Speisekarte des "Herrenkellers" gelangt ist und fragte an, ob Interesse daran besteht, das historische Dokument im Original zu übernehmen. Für das Gerolzhöfer Stadtmuseum und die hiesige Lokalhistorie habe die Speisekarte keinerlei Bedeutung, macht Schulz klar. Er möchte jedem Eindruck entgegenwirken, das Stadtmuseum gebe irgendetwas Wertvolles aus den Händen.
Nicht nachvollziehbare Gründe
In diesem Fall sei die Speisekarte am besten dort aufgehoben, wo sie letztlich auch herstammt, findet Schulz: in dem Nürnberger Restaurant, von wo sie durch irgendeinen nicht mehr nachvollziehbaren Umstand nach Gerolzhofen gelangt ist. Vielleicht verstaubte sie auch einfach nur deshalb jahrzehntelang in einem Karton auf dem Rathaus-Dachboden, weil einem ehemaligen Gerolzhöfer das Essen im "Herrenkeller" so gut geschmeckt hat, dass er zur Erinnerung eine Speisekarte mitgehen ließ.
Die Antwort des Nürnberger Restaurant-Pächters gab Schulz' Ansinnen jedenfalls Recht. Dieser sei völlig begeistert gewesen, berichtet der Gerolzhöfer Museumsleiter. Er hätte nie gedacht, dass sich außerhalb Nürnbergs noch solch eine alte Speisekarte seines Restaurants, das er auch erst seit einigen Jahren führt, erhalten hätte. Auf jeden Fall habe er großes Interesse, die Speisekarte im Original zu übernehmen und dieser im Restaurant einen würdigen Platz zu geben.
Küche für die gehobene Gesellschaft
Vor rund einem Monat war es dann soweit: Schulz stattete "Böhm's Herrenkeller" in Nürnberg einen Besuch ab und überreichte dem glücklichen Pächter Korotynsky das historische Papier. Zugleich überzeugte er sich selbst davon, dass die dortige Küche bis heute dem Eindruck gerecht wird, die die Speisekarte von 1909 bei ihm bereits erweckt hatte. Denn dort waren unter anderem Schildkrötensuppe und Krebse, also durchaus Gerichte für eine gehobenere Gesellschaft, aufgeführt.
Doch damit ist die Geschichte der Speisekarte noch nicht ganz zu Ende erzählt. Denn Schulz war beim Studium der Speisekarte noch über die Signatur des Künstlers gestolpert. Ein gewisser H. Gradl hatte sich dort unter der im Jugendstil gehaltenen schmucken Grafik auf dem Deckblatt verewigt.
Spurensuche nach dem Künstler
Auch hier bedurfte es neben der Neugierde des Geschichtsforschenden nur wenig Suchaufwand, um fündig zu werden, um wen es sich dabei handelt: den im Jahr 1883 in Marktheidenfeld geborenen Künstler Hermann Gradl. Dieser nahm im Jahr 1907 ein Angebot der Königlichen Kunstgewerbeschule Nürnberg, der heutigen Akademie der Bildenden Künste Nürnberg, an und lebte fortan in der Stadt. Als akademischer Kunstlehrer unterrichtete er in den Bereichen Weberei, Keramik und Kinderspielzeug.
Im Jahr 1909, als er offenkundig auch das künstlerische Design der Speisekarte entwarf, gewann Gradl einen künstlerischen Wettbewerb der Stadt Nürnberg und widmete sich in der Folge einer seiner Leidenschaften, in der er sich autodidaktisch fortgebildet hatte: der Landschaftsmalerei. Und in genau in diesem Metier bewies er fortan Talent und brachte es im Jahr 1926 so weit, dass er einen Ruf als Kunstprofessor erhielt.
Gradl genoss einen zweifelhaften Ruhm
Ebenso unverhohlen wie seine künstlerische Leidenschaft brachte er allerdings auch seine Leidenschaft für den aufkommenden Nationalsozialismus zum Ausdruck und trat im Jahr 1934 dem Nationalsozialistischen Lehrerbund bei. Später handelte er sich den zweifelhaften Ruf ein, Adolf Hitlers liebster Landschaftsmaler zu sein – worüber Gradl seinen Stolz wiederum nicht verbarg.
Und an dieser Stelle schließt sich dann doch noch ein gewisser Kreis zu Gerolzhofen. Denn in Gradls Heimatstadt Marktheidenfeld wird derzeit diskutiert, ob Gradl wegen seiner Sympathie zu den Nazis, die er pflegte, weiterhin Ehrenbürger der Stadt und Namensgeber einer Straße sein kann. Dies erinnert an die hiesige Diskussion zur Zukunft der nach Nikolaus Fey, des nazitreuen "fränkischen Heimatdichters", benannten Straße in Gerolzhofen.