Der Grundtenor der Leserinnen und Leser ist deutlich: Das Urteil gegen einen 59-jährigen Orthopäden, der Frauen in seiner Praxis heimlich gefilmt und sie teils aus sexuellem Interesse berührt haben soll, sei zu milde. In den Kommentaren zu den Berichten über den Prozess auf mainpost.de findet sich viel Unverständnis: "Kein halbwegs empathischer Mensch kann das nachvollziehen, wieder einmal Täter- statt Opferschutz" oder "Sicherlich nicht 'Im Namen des Volkes'". Ein Nutzer schreibt: "Hätte mich auch sehr gewundert, wenn mal ein Urteil gesprochen wäre, das der Bürger auch versteht."
Das Landgericht Schweinfurt hat den Arzt in dieser Woche wegen der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen in neun Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses, zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt. In den weiteren Anklagepunkten – Vergewaltigung und sexuelle Belästigung – sprach die Kammer ihn frei. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
"Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht", begann die Vorsitzende Richterin Claudia Guba die Urteilsbegründung. Sie wolle auch transparent machen, "dass die gesamte Kammer vom Bauchgefühl auch geneigt war, eine höhere Strafe auszusprechen". Aber man könne sich nicht von einem Bauchgefühl leiten lassen, sondern müsse das Urteil nach rechtlichen Grundlagen festlegen.
Inhalt und Ablauf der Beratungen fallen unter das Beratungsgeheimnis
Wie lauten diese? Wie kommt ein solches Urteil zustande? Auf Nachfrage erklärt Gerichtssprecher Thomas Fenner: Das Urteil ist das Ergebnis der Beratung eines "Spruchkörpers", im Fall des angeklagten Arztes also der Strafkammer am Landgericht. "Hierbei haben alle Mitglieder des Spruchkörpers das gleiche Stimmrecht, das heißt es besteht kein Unterschied zwischen Schöffen und Berufsrichtern oder Beisitzern bzw. dem Vorsitzenden", so Fenner. Für den Inhalt und den Ablauf dieser Beratung gelte das Beratungsgeheimnis.
Bei der Strafe des Arztes handelt es sich um eine Gesamtstrafe, die sich aus mehreren Einzelstrafen zusammensetzt. "In einem ersten Schritt sind die Strafen für jede einzelne selbständige Tat festzusetzen. Hierzu ist zunächst der Strafrahmen zu bestimmen", erklärt der Gerichtssprecher.
Dieser ergebe sich für jeden Straftatbestand aus dem Gesetz. Um den Strafrahmen zu bestimmen, müssten auch Milderungen berücksichtigt werden – wie etwa eine verminderte Schuldfähigkeit. Auch ein Täter-Opfer-Ausgleich - wie bei dem angeklagten Arzt in zwei Fällen - kann Fenner zufolge zu einer solchen Milderung führen.
Für das Gericht zu berücksichtigen: Geständnis, Vorstrafen, Folgen
Innerhalb des auf diese Weise bestimmten Strafrahmens habe das Gericht dann die tat- und schuldangemessene Strafe zu bestimmen, sagt Fenner: "Hierbei sind eine Vielzahl von Strafzumessungserwägungen zu berücksichtigen, die zu einer höheren oder niedrigeren Strafe führen können, zum Beispiel ein Geständnis, Vorstrafen, Folgen der Tat für das Opfer oder Schadenshöhe."
In der Urteilsbegründung führte die Vorsitzende Richterin aus, was zugunsten des Orthopäden ausgelegt wurde: Er habe keine Vorstrafen, er habe ein Teilgeständnis abgegeben, er habe sich entschuldigt, es habe in zwei Fällen einen Täter-Opfer-Ausgleich gegeben, er habe sich eigenständig in Therapie begeben und er habe seine Praxis veräußert. Außerdem komme dem Angeklagten zugute, dass das Verfahren durch ein justizielles Verschulden lange gedauert habe.
Guba führte auch aus, was zulasten des Orthopäden gewertet wurde: Er habe die mutmaßlichen Taten über einen langen Zeitraum begangen, es seien viele Taten gewesen, er sei hemmungslos vorgegangen. Auch die Folgen für die Frauen seien strafschärfend zu berücksichtigen.
Einzelstrafen können nicht einfach zur Gesamtstrafe addiert werden
Bei der Gesamtstrafe sei "eine Gesamtwürdigung vorzunehmen", teilt die Pressestelle des Landgerichts mit. "Die Person des Täters und die einzelnen Straftaten werden zusammenfassend gewürdigt. Die Bildung der Gesamtstrafe erfolgt durch Erhöhung der höchsten Einzelstrafe, die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen." Das heißt: Die Einzelstrafen können nicht einfach addiert werden.
Im Falle des Orthopäden lag die höchste Einzelstrafe bei einem Jahr und drei Monaten. Der Angeklagte sei Ersttäter, er habe eine positive Sozialprognose. Und es gebe keine Erkenntnisse darüber, dass er in den vergangenen drei Jahren, nach der Anzeige der mutmaßlichen Taten, straffällig geworden sei. Mit seiner Praxis habe der Arzt auch den "Quell seiner Straftaten" veräußert, erklärte die Vorsitzende Richterin die Entscheidung für eine noch bewährungsfähige Strafe.
wenn es um Geld geht, stehen gerne gleich etliche Jahre ohne Bewährung im Raum (bin mal gespannt, was jetzt beim Prozess gegen einen der "Cum-Ex-Väter" rauskommt, angeblich bis zu 10 Jahre möglich), aber wenn jemand seine Vertrauensposition schamlos ausnutzt und andere Menschen bis ins Mark verletzt und demütigt, dann gibts einen Tätschler vom Gericht, "du-du, das machst du aber nicht nochmal" und das wars. Das zeigt doch mit aller brutalen Härte, was in dieser unserer Gesellschaft zählt (Geld-Geld-Geld...) und was nicht (irgendwelche komischen menschlichen Befindlichkeiten). Oder?
Was ist hier genau gemeint?
Dass ein Arzt in aller Regel in abgesicherten Verhältnissen lebt, ist ja anzunehmen.
Das heißt aber nichts anderes, als dass er einen festen Wohnsitz und ein gehobenes Umfeld und einen soliden Bildungsstand hat.
Es heißt NICHT, dass er sich in Zukunft sicher beherrschen kann und Straftaten wie diese nicht mehr begehen wird.
Wieso wird das also als strafmindernd berücksichtigt?
Die Kritik an zu "milden" Urteilen kommt ja meist von Leuten, die zwar viel Meinung aber wenig Sachkunde haben.
Eine Haftstrafe ohne Bewährung hätte hier beim heutigen Wissensstand nichts besser gemacht.