Im März 1896 gründete sich mit dem "Schweinfurter Gewerkschaftskartell", der erste Vorläufer des heutigen Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Schweinfurt. Berufsbezogene Arbeitnehmervertretungen wie der "Unterstützungsverein Deutscher Schuhmacher", die Metallarbeitergewerkschaft, der Buchdruckerverband und der Verband der Brauer und Schneider hatten erkannt, dass sie alleine nicht nur kaum etwas erreichten, sondern stets von Verbot und Auflösung bedroht waren.
Eingestuft als "politische Vereine" und stigmatisiert durch das 1878 erlassene "Sozialistengesetz" hatten diese frühen Interessenvertretungen kaum Spielraum für ihre Arbeit. Diese fünf Organisationen, mit gemeinsam 250 Mitgliedern, schlossen sich in der Erkenntnis zusammen, dass die Arbeits-, Lebens- und Wohnverhältnisse der einfachen Arbeiterinnen und Arbeiter, die meist sechs Tage in der Woche je elf Stunden zu arbeiten hatten, dringend verbessert werden müssen. Das Schweinfurter Gewerkschaftskartell konstituierte sich im Frühjahr 1896 unter dem Vorsitz von Johann Feßler, der 1905 durch Fritz Soldmann abgelöst wurde.
125 Jahre Schweinfurter Gewerkschaftskartell, dieses Jubiläum hätte eigentlich 2021 begangen werden müssen. Wegen der Pandemie wurde der Auftakt zum Jubiläumsjahr nun mit einem Jahr Verspätung mit Festreden und einem Empfang für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in der Kunsthalle gefeiert. Von März bis Juni ist eine vom DGB organisierte Veranstaltungsreihe geplant. Anfang Juni soll ein Buch erscheinen, in dem die Geschichte der Schweinfurter Arbeiterbewegung aufgearbeitet wird.
Jahrzehnte der Verfolgung und Bedrohung
"Von diesen 125 Jahren müssen wir zwölf Jahre Nationalsozialismus abziehen, denn in dieser Zeit gab es keine freien Gewerkschaften", so Festredner Dr. Joachim Beerhorst, Dozent der Europäischen Akademie der Arbeit in Frankfurt. Verfolgt, drangsaliert, verboten waren die Gewerkschaften auch zu anderen Zeiten, zum Beispiel im Kaiserreich. Sprüche wie "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" machten bei den Mächtigen die Runde. Ein Spruch, der, wenn man auf den Krieg in der Ukraine blicke, wieder traurige Aktualität besitze.
"Mehr als die Hälfte der Zeit ihrer Existenz waren die Gewerkschaften nicht anerkannt", so Beerhorst, der in seiner Festrede tief auf die Bedeutung der Arbeitnehmervertretungen im historischen, philosophischen und sozialpolitischen Kontext einging. "Die Anerkennung als starke Interessenvertreter für die Anliegen der arbeitenden Menschen wurde nicht von oben verliehen, sondern von unten erstritten", so sein Fazit.
Eröffnet hatte den Empfang Oberbürgermeister Sebastian Remelé (CSU). Er erinnerte daran, das in dieser Kunsthalle einst das Sachs-Bad war, das viele Schweinfurter bis Mitte des vorigen Jahrhunderts auch als Badehaus nutzten, weil damalige Wohnverhältnisse ein eigenes Bad nicht zuließen. Schweinfurt sei stärker als andere Städte in Nordbayern von der Arbeiterbewegung geprägt worden, so der OB. Eine Arbeiterbewegung, die auch in gesellschaftlicher Hinsicht breit aufgestellt war. So gab es zum Beispiel einen Konsumverein, in dem sich Arbeiter organisierten, um sich preiswert mit zum Beispiel Nahrungsmitteln, Bier, Brot und Brennstoffen versorgen zu können.
Initiativen der Arbeitnehmervertretungen prägen das Leben in der Stadt
Auch aus der Arbeiterbewegung hervorgegangene Organisationen wie die Naturfreunde, die Arbeiterwohlfahrt, der Arbeiter-Samariter-Bund oder Sportvereine prägen bis heute das Leben in der Stadt. Remelé betonte, dass Gewerkschaften heute eine weit über die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse hinaus gehende Rolle spielen. Es gehe auch darum, Arbeitsplätze nicht nur zu erhalten, sondern deren Transformation ins Zeitalter der Digitalisierung und Robotik zu begleiten.
Remelé stellte die Frage "Wie schaffen wir es, dass in Schweinfurt und in Deutschland weiterhin produziert wird und nicht in anderen Ländern zu Bedingungen, die Ende des 19. Jahrhundert hier in Schweinfurt herrschten?" Auch für den immer größer werdenden und in beinahe allen Branchen zu beobachtenden Fachkräftemangel müssten Lösungen gefunden werden. Probleme und Fragen, denen sich auch die Gewerkschaften stellen müssen, so der OB.
Der Schweinfurter DGB-Kreisvorsitzende Martin Schmidl sprach für die heute acht Mitgliedsgewerkschaften des DGB in Unterfranken, mit mehr als 100 000 Mitgliedern. Angesichts des Krieges in der Ukraine erinnerte auch er an die Wichtigkeit der internationalen Solidarität unter den Beschäftigten. Die letzten Wochen hätten gezeigt, wie wichtig es sei, für Frieden und gewaltfreie Lösungen einzustehen. In seinem Büro, so Schmidl, hänge ein Foto von der Maikundgebung 1955. Auf dem mitgeführten Plakat sei zu lesen "Einheit, Freiheit – Gegen den Militarismus für den Weltfrieden". "Seit 1957 begeht der DGB immer am 1. September den Antikriegstag", betonte Schmidl auch diese leider wieder sehr aktuell gewordenen Forderungen des DGB.
Ausbeutung gibt es immer noch
Gute und sichere Arbeitsbedingungen seien auch künftig das Kerngeschäft des DGB. Und es gebe neue Herausforderungen. Schmidl nannte das Beispiel eines Kollegen, der im Bereich Logistik arbeitet, der mittlerweile für den zweiten Subunternehmer Pakete ausliefert. Der erste Subunternehmer habe ihn nach ein paar Wochen nicht mehr beschäftigt, Lohnzahlungen blieben aus, der Mann verlor seine Wohnung. Zu prekären Bedingungen fährt er nun für einen anderen Subunternehmer, schläft in seinem Lieferwagen.
Viele Beschäftigte, zum Beispiel in Großschlachtereien oder in der saisonalen Landwirtschaft, leben und wohnen in Verhältnissen, wie sie auch in den Anfangstagen der Arbeiterbewegung zu finden waren. Heute stelle sich die Frage, ob zwölf Euro Mindestlohn vor Altersarmut schützen. Dazu komme, dass "die Tarifflucht der Betriebe weitergeht und immer kreativere Formen annimmt", so Schmidl. "Es gibt genug für den DGB zu tun, seine Rolle in der Gesellschaft ist um keinen Deut geringer geworden."