Nein, Oberndorf ist kein normaler Stadtteil. Wie der Name schon sagt, war Oberndorf ein Dorf mit allem Drum und Dran, das bis zum 1. Dezember 1919 eigenständig war. Seither ist das Dorf ein Stadtteil wie Haardt, Hochfeld oder Hafen. Das hat in der Wahrnehmung vieler Oberndorfer, dem Stadtteil, auf dessen Gemarkung die Wiege der Schweinfurter Industrie stand, nicht gutgetan.
"Heute haben wir fast gar nichts mehr", so etwa Marianne Prowald, die für die SPD, aber vor allem für Oberndorf im Schweinfurter Stadtrat sitzt. Damit meint sie nicht den Wasserturm, heute das Wahrzeichen des Stadtteils Bergl am "Berliner Platz", der 1912 noch auf Oberndorfer Grund zur Oberndorfer Wasserversorgung gebaut wurde. Nein, die Oberndorfer Seele, vor allem, aber nicht nur die der Älteren, reibt sich unter anderem an fehlenden Einkaufsmöglichkeiten im Nahbereich, dem Mangel an Bauplätzen, dem Verlust einer identitätsstiftenden Dorfmitte und dem Gefühl, nur noch ein Durchfahrt-Straßendorf auf dem Weg zur Autobahn oder nach Bergrheinfeld zu sein.
Wir haben uns auf Spurensuche begeben und bekennende Oberndorfer nach ihrer DNA befragt. "Früher war mehr Lametta", sagt Loriot in einem seiner unvergesslichen Sketche. "Früher war mehr Oberndorf" würden die Befragten wohl alle unterschreiben, zum Schmunzeln finden sie diese Erkenntnis eher nicht. Im alten Feuerwehrhaus plauderten sie über das, was "Oberndorfer sein" ausmacht und welche Gefahren lauern, dass diese Tugenden vergessen werden und verloren gehen.
Sebastian Schuler: "Oberndorf ist der beste Kompromiss zwischen Stadt und Land"
Sebastian Schuler (36) ist gebürtiger Oberndorfer, den Studium und Beruf vorübergehend in die Ferne zogen. "Oberndorf ist der beste Kompromiss zwischen Stadt und Land", begründet er seine Rückkehr nach Oberndorf. "Ich habe einen alten Bauernhof mit viel Platz und Garten, so etwas kann ich an der Eselshöhe nicht haben." Er schätzt dennoch die Stadtnähe und dass er vieles mit dem Fahrrad erledigen kann. Ihn stört, da geht es ihm wie vielen Oberndorfern, der Durchgangsverkehr, der gar nicht für Oberndorf bestimmt ist. Den Verkehr, auch in Wohngebieten, dem Leben unterordnen, das wünscht er sich nicht nur für Oberndorf, sondern von einer umfassenden Verkehrswende, die seiner Meinung nach unbedingt nötig ist.
Marianne Prowald: "Uns fehlt der Dorfmittelpunkt, wo sich die Menschen treffen können"
Marianne Prowald (69) stammt eigentlich aus Stockheim im Landkreis Rhön-Grabfeld. Mit ihrer Heirat und der Übernahme der Vereinsgaststätte des Kleingartenvereins Schweinfurt-Oberndorf wurde sie leidenschaftliche Oberndorferin. "Ich bin seit fast 50 Jahren hier und habe mich von Anfang an wohlgefühlt." Wie alle Befragten beklagt sie den "katastrophalen Zustand" der Oberndorfer Mitte. "Wir hatten hier so einen schönen Festplatz mitten im Dorf mit Kastanienbäumen", erinnert sie sich an die Zeit, bevor diese gefällt wurden "und man uns dieses Haus daher gestellt hat." Gemeint ist der weiße Wohnblock gleich neben dem alten Feuerwehrhaus, dem der Festplatz weichen musste. "Uns fehlt der Dorfmittelpunkt mit Orten, wo sich die Leute treffen können." Auch den anderen Stadtteilen, so die Stadträtin, würden solche Zentren guttun.
Günter Siebenbürger: "Wir Oberndorfer haben nichts mehr außer unserem Stolz"
Für Günter Siebenbürger (73) ist Oberndorf Heimat und Identität, ein Ort, auf dessen Tradition er stolz ist und in dem er sich von der Schule über den Sport und als Mitglied in allen Vereinen sozialisiert fühlt. "Wir haben einen Zusammenhalt, den es in Schweinfurt so nicht gibt." Dafür nimmt er einiges in Kauf. "Wir haben hier Sandgruben, zwei Diskotheken, den Verkehr, die Autobahn, die Industrie und die Luftverschmutzung und alles Mögliche, was keiner will", meint er ironisch. Die Stadt habe seit dem Bau der Kläranlage nichts mehr für Oberndorf getan, aber dieses Bewusstsein eine die Oberndorfer auch irgendwie. "Schweinfurt wäre ein Provinznest ohne Oberndorf, ohne das riesige Gelände, das sie bekommen haben", ist er sich sicher. "Wir haben zwar Autobahn, aber keine Umgehung. Wer in Oberndorf bauen wollte, konnte nicht. Wir haben nichts mehr außer unserem Stolz", beklagt er, dass die Nahversorgung kaum noch existiert. "Ohne Eingemeindung wäre Oberndorf heute vielleicht vergleichbar mit Gochsheim oder Sennfeld", so sein Fazit.
Christian Geiß: "Bei starkem Durchgangsverkehr klappern die Tassen im Schrank"
Christian Geiß (75) war Landwirt in Oberndorf und beklagt als Anwohner der Hauptstraße den Durchgangsverkehr. Die Erschütterungen, viele Lkw fahren durchs Dorf, seien nicht nur für sein denkmalgeschütztes Haus schlimm. Tassen klappern im Schrank, "früher hat es mir beim Plattenspieler den Tonarm rausgehaut", wirft Günter Siebenbürger in die Runde. Christian Geiß wünscht sich Verkehrsberuhigung. Als Oberndorfer "Ureinwohner" ist ihm die intakte Dorfgemeinschaft ganz wichtig.
Helene Köppel: "Alles tun, um Neubürger in die Dorfgemeinschaft zu integrieren"
Helene Köppel (74) schließt sich den negativen Einschätzungen hinsichtlich Verkehr und Nahversorgung an. "Positiv ist, dass bei uns jeder für den anderen einsteht, dass immer alle da sind, alle zusammenrücken und nach Kräften mithelfen." Auf der anderen Seite wünscht sie sich, dass es besser gelingt, die Neubürger mit in diese Dorfgemeinschaft einzubeziehen. Mehr Kontakt mit den Zugezogenen wäre schön. Nur so könne es gelingen, diese Dorfgemeinschaft in die nächste Generation zu retten. Sehr gut an Oberndorf findet sie auch die kurzen Wege in die Natur. Besonders vom Biotop vor der Haustür ist sie angetan. Seit das Biotop da ist, gebe es wieder mehr Bienen und Insekten in den Gärten. Als Buchautorin schätzt Köppel den Künstlerhof, wo nicht nur Veranstaltungen stattfinden, sondern man auch neue Leute kennenlernen könne.
Renate Schuler: "Ich schätze die Nähe zur Natur und zum Main"
Renate Schuler (61) ist Ur-Oberndorferin, ihre Eltern hatten Landwirtschaft. "Für mich ist hier Heimat, ich bin aus Oberndorf fast nicht herausgekommen." Kurzzeitig hat sie am Deutschhof gelebt, "da habe ich den Unterschied gemerkt, es hat mir dort nicht gefallen". Der Sohn hat ihr Elternhaus übernommen, die Enkel sind da. "Das ist schön." Auch sie beklagt den Verkehr, schätzt aber auch die Nähe Oberndorfs zur Natur. "Ich bin gleich am Main, der hat mich seit der Kindheit begleitet." Das Geniale an Oberndorf sei, ländlich zu leben und doch stadtnah zu sein. Das sei wichtig für die ältere Generation, die nicht mehr vor Ort einkaufen kann. "Oberndorf, das war für mich auch immer der Sportverein TVO, da habe ich einen großen Teil meines Lebens verbracht." Renate Schuler bedauert, dass Oberndorf junge Familien verloren habe, weil sie keinen Bauplatz fanden und wegzogen.
Klaus Schuler: "Junge Leute ziehen weg, weil sie bei uns nicht bauen können"
Klaus Schuler (64) bestätigt, dass dem Sportverein – er ist TV Oberndorf-Vorsitzender – die jungen Leute fehlen, weil sie im Ort nicht bauen können. "In dem Zeitraum, in dem in Oberndorf etwa 30 Häuser gebaut wurden, sind in Bergrheinfeld 800 gebaut worden", schätzt er. Ein Zeitraum, in dem sich Bergrheinfeld verfünffacht habe, "und wir sind so geblieben oder sogar geschrumpft, weil in den alten Gebäuden kaum noch junge Familien wohnen". Dort wohnen häufig nur noch Alleinstehende und Ältere, "die Familien fehlen uns hinten und vorne". Die Oberndorfer – es sind noch etwa 2500 – haben Angst, dass deswegen dieser Zusammenhalt, diese Dorfgemeinschaft verloren geht.
Rosmarie Schüller-Siebenbürger: Wir brauchen fußläufig erreichbare Geschäfte
Rosmarie Schüller-Siebenbürger (67) erzählt von ihrem Lieblingsplatz "Oberndorf unter den Linden". Eine Adresse, die es offiziell zwar nicht gibt, aber dieser Innenhof der St. Josefskirche ist für sie ganz einfach ein positiver Ort. "Positive Plätze, die das Gefühl von Heimat vermitteln, braucht der Mensch", ist sie sicher. Für sie ist Oberndorf ein Ort, an dem das Leben und die Natur zusammenfinden. Sie wünscht sich fußläufig erreichbare Geschäfte, vor allem für den Lebensmittelbereich, aber auch weitere Plätze, wo sich Menschen unkompliziert treffen können. Plätze, wo schon ein paar Leute sitzen und man sich einfach dazu setzt, ganz so wie das früher war.
Das bekräftigen alle in der Runde. Oberndorf, innerhalb dessen einstiger Gemarkungsgrenze sich heute das Stadtgebiet bis zur Landwehrstraße befindet, habe wegen der Eingemeindung nach Schweinfurt auch irgendwie das "Gen des gallischen Dorfes" entwickelt, so Klaus Schuler. "Dazu hat man uns aber gemacht, denn wenn sie uns immer gut behandelt hätten, dann wären wir auch nicht so. Wir fühlen uns von der Stadt nicht gewürdigt", sagt er. Oberndorf müsse die Nachteile des Reichtums der Stadt tragen. Durch die Industrie habe man keine Möglichkeit, das Dorf zu entwickeln. An allen Seiten gebe es die Autobahn, die zum größten Teil auch als Infrastruktur für die Industrie gebaut worden sei.
Den Stadtteil so entwickeln, dass es dort dörflich lebenswert ist, das wünscht sich Schuler. So etwa wie dies in der Schweinfurter Altstadt im Stadtteil Zürch geschehen sei. "Da wird, anders als bei uns, sich gekümmert und investiert, kein Wunder, dass wir manchmal sauer sind."