
Nächstes Jahr wird die Schweinfurter SPD 130 Jahre alt. Sie kann zu ihrem runden Geburtstag auf eine große Geschichte zurückblicken. Auf enorme Verdienste für die Arbeiterschaft in den Fabriken und die stetige Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse.
Auf vier langjährige, äußerst geschätzte Oberbürgermeister, die die Stadt vor und nach dem Krieg regiert und ihre Entwicklung maßgeblich bestimmt haben. Auf fünf Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen zunächst die große Wohnungsnot behoben und ganze Stadtteile neu geschaffen wurden, in den denen das Industriegebiet Hafen entstand, das große Leopoldina-Krankenhaus, ein neues Schwimmbad, das weit über die Stadt hinaus beliebte Naherholungsgebiet Wildpark an den Eichen.
Ein Schuss geht nach hinten los
Federführend und bestimmend waren in der Wälzlagerstadt wie selbstverständlich die Sozialdemokraten – so wie es die CSU im größten Teil des restlichen Freistaats war. Die SPD stellte die meisten Stadträte, die Oberbürgermeister, sie nutzte ihre Gestaltungsmacht zur Zufriedenheit der meisten Schweinfurter und wurde ein ums andere Mal in ihrer Führungsrolle bestätigt.
Anfang der 90er Jahre machte die Partei einen großen Fehler. Sie drängte den beliebten Oberbürgermeister Kurt Petzold wegen einer sehr privaten Lebensentscheidung zum Verzicht auf eine erneute Kandidatur und wollte ihn durch den Kämmerer aus der Stadtverwaltung ersetzen. Der Schuss ging nach hinten los. Zur großen Überraschung aller verlor die SPD die Wahl. Der OB-Sessel fiel an die bis dato kaum bekannte CSU-Kandidatin Gudrun Grieser, eine Lehrerin.
Viele in der Partei halten das heute noch für den alles entscheidenden Fehler. Die SPD drückte der Lokalpolitik mit ihrer Mehrheit im Stadtrat zwar noch vier weitere Jahren ihren Stempel auf. Bis 1996 konnte Grieser kaum eigene Vorhaben durchsetzen. Dann aber verlor die SPD bei der Stadtratswahl auch die Mehrheit im Ratsgremium – und von da an ging's bergab. Konnten sich die Sozialdemokraten jahrzehntelang auf absolute Mehrheiten stützen, verkehrten sich nun die Verhältnisse. Zurzeit stellt die CSU von 44 Stadträten 21 plus den Oberbürgermeister – die SPD gerade noch zehn.
In München und Berlin keine Vertreter
Auf Bundes- und Landesebene war die Schweinfurter Sozialdemokratie auch schon einmal besser vertreten. Im Bundestag lange Jahre mit Rudolf Müller und Frank Hofmann – doch seit 2013 hat es kein SPD-Kandidat mehr nach Berlin geschafft. Im Landtag war vor Kathi Petersen, die nun wegen des desaströsen Ergebnisses vom 14. Oktober aus dem Landtag ausscheiden wird, Ruth von Truchseß die letzte Abgeordnete aus der Region. Die bittere Ironie: Ausgerechnet AfD-Mann Richard Graupner, der als langjähriger Stadtrat (zuvor für die Republikaner) kaum durch Sacharbeit und Ideen aufgefallen ist, zieht als Schweinfurt-Vertreter ins Maximilianeum ein. Petersens engagierte Arbeit in München und vor Ort wurde nicht belohnt. Nur eine überörtliche Mandatsträgerin hat die Schweinfurter SPD derzeit: Kerstin Westphal im Europaparlament.
So wird die 130-Jahr-Feier der Schweinfurter SPD im nächsten Jahr wohl getrübt werden von dem seit Jahren anhaltenden Niedergang der Partei, den sie bisher zumindest nie zu stoppen oder gar umzukehren vermochte. Was sind die Ursachen? Wo sind die früheren Stammwähler hingewandert? Wieso gelingt es den Sozialdemokraten immer weniger, das Vertrauen der Bürger zu gewinnen?
Petzold: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“
Einer, der es wissen oder ahnen könnte, ist Kurt Petzold, der als letzter SPD-Oberbürgermeister die Stadt von 1974 bis 1992 regiert hatte. Doch der 82-Jährige sagt: „Ich bin ratlos, ich weiß es nicht.“ Dann fallen ihm doch ein paar Gründe ein: Etwa, dass die Industriearbeiterschaft als klassisches SPD-Klientel einerseits abnehme und sich andererseits längst zur Mittelschicht zähle; dann der Zuzug Tausender Russlanddeutscher Anfang der 90er Jahre – überwiegend konservatives Klientel.
Im Stadtteil Gartenstadt etwa, wo alteingesessene Schweinfurter zuhause seien, hätten auch bei dieser Landtagswahl 20 Prozent für die SPD gestimmt – in anderen Bezirken, wo das Migrationsthema verfangen habe, aber nur neun. Ist der Abwärtstrend auch mal wieder umkehrbar? „Ich bin von ganzem Herzen Sozialdemokrat“, sagt der 82-Jährige, „die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Petersen: „Alles Rote war ganz schlimm“
Noch-MdL Kathi Petersen ist auch die Vorsitzende der Schweinfurter SPD. Sie sieht die Ursachen auf mehreren Ebenen. Petzold als OB loswerden zu wollen, sei ein großer Fehler gewesen: „Selbst schuld, das hat der Partei nachhaltig geschadet.“ Erheblich verändert habe Anfang der 90er Jahre der Zuzug tausender Russlanddeutscher die Wählerstruktur in Schweinfurt. „Für die war alles, was rot ist, ganz schlimm.“
Dass so viele Spätaussiedler ausgerechnet Schweinfurt zugweisen wurden, „war vielleicht gar nicht unbeabsichtigt, um der roten Hochburg zu schaden“, meint Petersen. Ganze Stadtteile, das Bergl oder der Deutschhof, hätten sich dadurch massiv verändert. Andererseits sei es der SPD auch nicht gelungen, bei den Russlanddeutschen die Vorurteile gegen „Rote“ zu entkräften.
Geschwächt durch die Agenda-Politik
Was die SPD weiter geschwächt hat, war laut Petersen eine Spaltung infolge der Schröder'schen Agenda-2010-Politik. Dass ein langjähriger Beschäftigter nach einem Jahr unverschuldeter Arbeitslosigkeit auf Sozialhilfeniveau fallen sollte, habe viele SPD-Wähler und Gewerkschafter hier entsetzt. In der SPD sahen sie nicht mehr ihre Interessenvertreter, gründeten die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ – ganz vorne mit dabei der damalige Schweinfurter IG-Metall-Chef Klaus Ernst –, die später mit der ostdeutschen PDS zur Partei „Die Linke“ fusionierte. Die wurde in Schweinfurt sofort auch lokalpolitisch aktiv – und gewann 2008 auf Anhieb vier Sitze im Stadtrat.
Und wie erklärt sich der aktuelle regelrechte Absturz der Partei bei der Bayernwahl von 20 auf unter zehn Prozent? Zum einen habe die Bundespolitik alles überlagert, landespolitischen Themen hätten kaum interessiert. „Wir sind aber auch etwas verstaubt rübergekommen“, räumt Petersen ein. Doch wie bekommt die SPD wieder einen Lauf? „Intensiver mit allen Bevölkerungsgruppen ins Gespräch kommen, in der Politik emotionaler werden und die Ziele glaubhaft machen – auch wenn sie in der Umsetzung Zeit bräuchten.
Hofmann: „Keine Glucke mehr“
Ursachen für den „Niedergang“ der Partei sieht Ralf Hofmann, SPD-Fraktionsvorsitzender im Stadtrat, auf verschiedenen Ebenen. Zum einen in der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, dass Arbeiter und Angestellte als ihr klassisches Milieu heute ein anderes Selbstbewusstsein als noch vor ein paar Jahrzehnten hätten. „Die haben sich emanzipiert, die brauchen keine Glucke SPD mehr, die frühere Bindung ist nicht mehr da.“ Zweitens der Zuzug von rund 10.000 Russlanddeutschen mit grundsätzlicher Aversion gegen „rote Parteien“. Allerdings habe die SPD „auch keinen Hebel gefunden, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen.“
„Drittens, und das schlägt voll durch, haben wir als SPD eine Sprache, die für die Menschen, die wir vertreten wollen, völlig unverständlich ist“, so Hofmann selbstkritisch. Dabei habe sich die Gesellschaft seit 1998 progressiv entwickelt, Fehler der Agenda-2010-Politik seien korrigiert worden. „Wir sind eine Anwaltspartei geworden, Anwalt für bestimmte Leute, das ist etwas von oben herab, die Menschen wollen das nicht.“ Viertens: „Der Zeitgeist läuft gerade gegen uns.“ Es gebe da einen Grundkonsens: „Auf die SPD als Schuldige kann man sich einigen.“ Schlimm sei daran, dass alles Positive, dass auch die Erfolge in den Hintergrund gedrängt würden.
Läutet schon das Totenglöcklein?
Wandel der Wählerstruktur, Bindungsverlust bei früheren Stammwählern, Spaltung durch Agenda-Politik, widriger Zeitgeist, dazu etliche eigene Fehler: Was folgt aus dieser Analyse? Läutet der alten Tante SPD ausgerechnet in ihrer einstigen bayerischen Hochburg Schweinfurt nun das Totenglöcklein?
Ralf Hofmann hört nichts dergleichen. Niemand wolle doch, dass die SPD verschwinde. Im Stadtrat ging's ja auch nicht nur abwärts. Bei der letzten Wahl konnte die SPD wieder einen Sitz dazugewinnen. Beim nächsten Urnengang 2020 hält Hofmann gar 15 Mandate für realistisch. Das sei aber nur durch „brutal harte Arbeit“ möglich, durch persönliche Begegnung mit den Bürgern.
„Wir werden mit unseren Aktionen ,Fraktion vor Ort' und ,Von Tür zu Tür' weiter greifbar sein und zeigen, dass wir die Kümmerer sind.“ Das erklärte Ziel: „Dass in Schweinfurt nichts mehr gegen die SPD entschieden werden kann.“ Ein ehrgeiziges Vorhaben – genau das richtige vielleicht, wenn Schweinfurts SPD nächstes Jahr bei der Feier ihres 130. Geburtstags in eine bessere Zukunft blicken will – wieder „zum Lichte empor“.