Als die sechs Familien vor 73 Jahren in Gerolzhofen ankamen, hatten sie lange Strapazen hinter sich. Monatelang wussten sie nicht, wo sie eine neue Heimat finden würden. Ihr bisheriges Zuhause in Márkó in Ungarn hatten sie über Nacht verlassen müssen. Als Deutschstämmige waren sie in dem von der Sowjetunion besetzten Land nicht mehr geduldet. Mit Viehwaggons wurden sie aus dem Land gekarrt. Im kriegszerstörten Deutschland angekommen, zerstreuten sich ihre Wege schnell. Ein Teil von ihnen fand in der Steigerwaldstadt eine neue Heimat.
Als einer der beiden Gerolzhöfer Museumsleiter befasst sich Bertram Schulz seit etlichen Jahren mit der Geschichte der in Gerolzhofen gestrandeten Márkó-Deutschen. Die Mutter eines Bekannten von ihm, Elisabeth Zobler (geb. Vojts), gehörte zu den aus Márkó Vertriebenen. Schulz' Rechercheergebnisse sowie Kopien aus Familienalben und zu Papier gebrachte Erinnerungen von Betroffenen füllen bei ihm einen dicken Leitz-Ordner. Die noch bis Mittwoch, 10. November, im Gerolzhöfer Alten Rathaus zu sehende Sonderausstellung "Woher – Wohin", die das Thema "Migration" in Unterfranken und deren Auswirkungen zeigt, hat ihn bewogen, auf dieses vielen unbekannte Kapitel der Stadtgeschichte hinzuweisen.
Soldaten forderten zur Abreise auf
Er nennt die Familiennamen der Menschen, die Ende Oktober 1948 in Gerolzhofen ankamen: Brenner, Happ, Szukop, Vojts, Vizl und Winkelmann. Sie gehörten zu den 528 Einwohnern von Márkó, das in der Nähe des Plattensees liegt, die das Dorf am 18. Januar 1948 innerhalb weniger Stunden verlassen mussten. Russische und ungarische Soldaten hatten den Ort am Tag zuvor umstellt und den Befehl zur Abreise "der Deutschen" überbracht.
Márkó zählte damals 801 Bewohner, 703 von ihnen hatten deutsche Wurzeln. Ihre Vorfahren waren im 18. Jahrhundert von Kaiserin Maria Theresia in diesem nach den Türkenkriegen entvölkerten Landstrich angesiedelt worden. Die 103 vertriebenen Familien, die bereits zwei Jahre zuvor innerhalb von Márkó umgesiedelt worden waren und ihre Häuser an Ungarn übergeben mussten, mussten Anfang 1948 ihren kompletten Besitz für immer zurücklassen. Sie durften nur das Nötigste mitnehmen. Im Nachbarort wurden sie in Viehwaggons verladen. Wohin man sie bringen würde, erfuhren sie nicht. So fuhr die Angst mit, dass die Zugfahrt womöglich in Sibirien endet.
Zugfahrt endete im sächsischen Erzgebirge
Der Gerolzhöfer Josef Brenner hat die Erinnerungen seines im Jahr 1920 geborenen Vaters, der ebenfalls Josef hieß, an die Vertreibung aus Márkó zu Papier gebracht. Dessen Zeitzeugenbericht zufolge hielt der Zug mit den unter unwürdigen Umständen in die Waggons gepferchten Menschen nach vier Tagen und Nächten in Pirna in Sachsen, im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands. Insgesamt kamen dort bis zum 13. Juni 1948 33 Transporte mit Bewohnern aus Márkó an.
Die jungen ungarndeutschen Männer sollten im Erzgebirge unter Tage Uran abbauen – eine für die vorher überwiegend in der Landwirtschaft tätigen Vertriebenen völlig ungewohnte Arbeit. So flüchteten einige nach kurzer Zeit über die damals grüne Grenze nach Hof, in die amerikanische Besatzungszone. Von dort aus gelangten einige von ihnen nach Meitingen bei Augsburg, wo bereits andere frühere Einwohner von Márkó untergekommen waren, und fanden kurzfristig Arbeit. Weitere Familienangehörige kamen in den folgenden Monaten nach.
In Gerolzhofen gab es Unterkünfte und Arbeit
Doch Meitingen wurde nicht zur Endstation der Vertriebenen. In einem Auffanglager, so heißt es in den Erinnerungen Brenners, erfuhren die Menschen aus Márkó, auf die Frage, wo sie sesshaft werden könnten und wo es genug Arbeit gibt, dass dies im Raum Gerolzhofen möglich wäre. Nach eingehender Beratung beschlossen die besagten sechs Familien aus Márkó dann, dorthin weiterzureisen.
Doch da die für die Vertriebenen vorgesehenen Quartiere im früheren Baracken-Lager des Reichsarbeitsdienstes (RAD) in der Pestalozzistraße bei deren Ankunft Ende August 1948 noch nicht vorbereitet waren, wurden die Familien zunächst für zwei Monate in einem Tanzsaal in Stettfeld (Lkr. Haßberge) untergebracht. Am 30. Oktober 1948 wurden sie dann nach Gerolzhofen transportiert. In den alten RAD-Baracken mussten sich mehrere Familien einen Raum teilen.
Vertriebene fielen in der Stadt auf
Damit endete zwar die Vertreibung – doch wirklich angekommen in Gerolzhofen waren die Menschen aus Márkó noch lange nicht. Zwar fanden die Männer als Landwirte schnell Arbeit vor Ort. Doch aufgrund ihrer andersartigen Kleidung – die Frauen trugen beispielsweise Kopftücher – und ihres fremden Dialekts waren sie in den Augen vieler Einheimischer zunächst einmal "Zigeuner", beschreibt Schulz deren Situation. Ihre Kinder wurden von Mitschülern gehänselt. Auf der anderen Seite erkannten Einheimische aber auch die Not der Heimatvertriebenen und sammelten für diese etwa zu Weihnachten Geschenke, die, wie es ein altes Foto zeigt, in einer Baracke zu einem Gabentisch zusammengestellt wurden.
Die wenig einladenden, ärmlichen Lebensverhältnisse im Barackenlager trugen ihren Teil dazu bei, dass die Neubürger aus Márkó sich bemühten, so schnell als möglich in Gerolzhofen nicht nur beruflich Fuß zu fassen, sondern auch Eigenheime zu errichten. Familie Brenner beispielsweise baute sich ihr neues Zuhause in der Steigerwaldstraße, unterstützt von anderen Vertriebenen.
Beim Tanzkurs im Schützenhaus kennengelernt
Die Verbundenheit der ehemaligen Bewohner von Márkó untereinander hielt weiter an, nicht nur zwischen den Familien, die in Gerolzhofen untergekommen waren. Im Jahr 1969 kam es zu einem ersten Treffen der vertriebenen Márkóer – in Gerolzhofen. Maßgeblich organisiert haben das Treffen Franz Vizl und Josef Brenner. Vizl (Jahrgang 1926) wohnte in Gerolzhofen in der Salzstraße. Beim Tanzkurs im Schützenhaus hatte er im Jahr 1952 seine Frau Pauline näher kennengelernt, die gleich in der Nachbarschaft wohnte. Als Landwirt hatte ihr Mann in Gerolzhofen von Anfang an Arbeit gefunden. Später arbeitete er als Maurer und in der Industrie, erzählt Pauline Vizl. Ihr Mann starb im Jahr 2012 nach fast 60 gemeinsamen Ehejahren.
Die Márkó-Treffen fanden eine ganze Zeitlang alle paar Jahre statt, mehrfach in Gerolzhofen. Doch dann liefen die Treffen langsam aus, als ihr Mann krankheitsbedingt die Organisation nicht mehr leisten konnte und auch andere die damit verbundene Arbeit scheuten, erzählt die 93-jährige Vizl. Im Jahr 1998 fuhren die vertriebenen Ungarndeutschen nochmals zur Kirchweih nach Márkó, in die alte Heimat.
Dort erinnert heute vor der Kirche ein im Jahr 2018 aufgestelltes Denkmal an die vertriebenen ehemaligen Einwohner des Ortes, die einst einen Großteil der dortigen Bevölkerung ausgemacht haben.
Aufruf: Museumsleiter Bertram Schulz sucht weiter nach Informationen und Familiengeschichten von früheren Bewohnern von Márkó. Wer hierzu Angaben oder alte Fotos hat, wird gebeten, sich bei ihm unter Tel. (09382) 903173 zu melden. Schulz trägt möchte sämtliche Informationen zusammentragen und würde Kopie von Fotos anfertigen, um diese für die heimatgeschichtliche Forschung und für die Nachwelt zu erhalten.