
1. März 1945, ein Mittwoch. Das Wetter ist an diesem Nachmittag frühlingshaft. Viele Menschen sind deshalb draußen, arbeiten in ihren Gärten. Obwohl es das sechste Kriegsjahr ist, liegt Hoffnung in der Luft, Hoffnung auf das baldige Kriegsende. Doch für Zofia Malczyk ist es der letzte Tag ihres Lebens. Die polnische Zwangsarbeiterin wird nahe dem heutigen Krankenhaus Leopoldina von zwei Polizeibeamten – ohne Prozess oder Anklage – erschossen.
Ihr tragischer Tod steht am Ende einer langen Leidensgeschichte, die auch mit dem am Main gelegenen Harmoniegebäude und seinen Kellerfenstern zu tun hat. „Hier befand sich in der Nazizeit die Polizeistation und im Keller war das Gefängnis untergebracht,“ berichtet Claudia Helldörfer. Zofia Malczyk war dort im Februar und März 1945 mehrere Tage wegen kleinerer Diebstähle, die die Nazis als Plünderung bewerteten, inhaftiert.
Zofia Malczyk, am 5. Mai 1926 in Raszyn bei Warschau geboren, kommt 1939, vielleicht auch erst 1940, nach Deutschland – freiwillig, wie sie später der Gestapo sagt. Weil ein Nachweis für ausgeübten Zwang fehlt, ist denkbar, dass es so war, wenngleich Polen besetzt war und es im Krieg führenden Deutschland bereits an Arbeitskräften fehlte. Zofia arbeitete wie zuhause in der Landwirtschaft, mutmaßlich im Raum Würzburg. Man muss sich vor Augen führen: Sie war 13, 14 Jahre jung, alleine in einem fremden Land und ohne Sprachkenntnisse. Im Sommer 1942 wird sie, jetzt 16, schwanger.
Malczyk kommt nach Geburt des ersten Kindes zurück ins Nazi-Deutschland
„Man schickte sie deswegen zurück nach Polen, wo sie ihr Kind zur Welt brachte“, berichtet Claudia Helldörfer. Zofias späteren Angaben zufolge stirbt das Kind nach wenigen Monaten. Sie kehrt nach Deutschland zurück. Wieder muss offen bleiben, ob das wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse zuhause freiwillig oder unter Zwang geschah. Nichterscheinen am Arbeitsplatz oder gar Weglaufen hatte gleichwohl Folgen. Wie das im Juli 1943 der Fall war: Zofia verlässt ihre Arbeitsstelle in Margetshöchheim, die Gestapo wird eingeschaltet. „Sie war das zweite Mal schwanger, möglicherweise war das der Auslöser für diese und die weiteren Fluchten“, sagt die Gästeführerin.

Zofia wird gefasst, im September 1943 einem anderen „Arbeitgeber“, wieder in Margetshöchheim, zugewiesen, von wo sie nach zehn Tagen erneut wegläuft. Anfang November wird sie aufgegriffen, sie kommt in so genannte Erziehungshaft, wird Ende November entlassen, verlässt aber auch den nächsten Arbeitsplatz in einem Dorf im Raum Würzburg. „Die Lage der Fremdarbeiter war ja sehr unterschiedlich, und wie es ihnen ging, kam sehr auf die Familien an, bei denen sie untergebracht waren. Wahrscheinlich hat Zofia ziemlich Pech gehabt“, merkt Claudia Helldörfer an.
Laut einem Aktenvermerk der Gestapo lehnt Zofia eine ihr wohl nahegelegte Abtreibung ab. Zofia bringt das Kind zur Welt, sein Schicksal ist unbekannt. Sprung ins Jahr 1945: Am 13. Februar zeigt ein Bürger beim Kriminalsekretär Jakob Ottmann in Schweinfurt den Einbruch in seine durch Bomben beschädigte Wohnung in der Bauschstraße an. Die Frau sei aber entkommen. Tage später wird in derselben Straße eine junge Frau erwischt, mit Gegenständen aus der Wohnung unterm Arm. Es ist Zofia Malczyk. Bei einer körperlichen Untersuchung auf der Polizeiwache wird ihre dritte Schwangerschaft festgestellt.
Auf dem Weg zu einer Gegenüberstellung Tage später führt sie Ottmann ihrer dringenden Bitte entsprechend zur Toilette einer Gaststätte am Postplatz. Zofia flieht durchs Fenster, kommt aber nicht weit. Sie wird ins Gefängnis am Main gesteckt. Am 8. März findet die Überstellung nach Würzburg statt. Beim Bombenangriff am 16. März werden Würzburg und auch das dortige Gefängnis total zerstört. Zofia gelingt die Flucht, sie wird am 18. oder 19. März in Schweinfurt aufgegriffen und landet erneut im Keller der Schweinfurter Polizeiwache.
Die Kripobeamten sind auf Zofia längst nicht mehr gut zu sprechen. Man will sie aus dem Weg räumen. Angeblich gab es einen Befehl, wonach wegen der Zerstörung des Würzburger Gefängnisses die leichteren Fälle nach Bad Neustadt zu verbringen, die Kapitalverbrecher, zu denen man die junge Polin zählte, an Ort und Stelle „zu erledigen“ seien. Kriminalsekretär Ottmann gibt im späteren Prozess an, für ihn sei klar gewesen, dass damit töten gemeint war.

Ottmann und der Kollege Ignaz Pokutta (39 und 34 Jahre alt) führen Zofia am 21. März 1945 aus der Stadt. Entlang des Mains marschieren sie in Richtung Krankenhaus, auf der Suche nach einem menschenleeren Ort für ihren schrecklichen Plan. Diesen Ort finden sie in der Gustav-Adolf-Straße. Ottmann zieht die Pistole und erschießt Zofia Malczyk. Die Tat bleibt lange ungesühnt, auch weil Täter und andere Beteiligte schweigen.
Erst 1951 erzählt ein anderer früherer Polizist einem Stadtrat von der Sache. Der verständigt Oberbürgermeister Ignaz Schön, der Anzeige erstattet. Am Ende des Prozesses am Schwurgericht Schweinfurt werden am 6. März 1953 Jakob Ottmann zu zehn, Ignaz Pokutta zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt – wegen Totschlags. Der Bundesgerichtshof Karlsruhe folgt der Meinung eines Schweinfurter Staatsanwalts, dass es auch Mord gewesen sein kann. Neuer Prozess. Ergebnis: Freispruch. Große Verblüffung. Die Anklagebehörde geht wieder in Revision. Wieder stimmt Karlsruhe zu, eine Ohrfeige für die Schweinfurter Richter.
Der Mörder wurde 1955 nur wegen Totschlags verurteilt
Der nun dritte Prozess findet 1955 statt, jetzt am Schwurgericht Würzburg. Ottmann erhält nun drei Jahre, Pokutta ein Jahr Gefängnis, wieder wegen Totschlags. Kein Mord also. Das Urteil ist genau die Obergrenze für die Anwendung des im gleichen Jahr 1955 erlassenen Straffreiheitsgesetzes. Folge: Das Verfahren wird eingestellt, die Täter kommen ohne Strafe davon.
Für Claudia Helldörfer ein krasses Fehlurteil: „Ich habe die Geschichte schon so oft erzählt. Aber ich kann es nach wie vor nicht fassen, dass die Männer nicht für den Mord, den sie begangen haben, belangt wurden.“ Die Amerikaner marschieren 21 Tage nach dem Mord in Schweinfurt ein. An Zofia Malczyk erinnert seit 2007 ein Gedenkstein am Tatort mit der Inschrift: „Solches geschieht heute noch an vielen Orten der Welt. Lass dich anrühren! Nimm es nicht hin!“
So geht’s zu den Kellerfenstern
Sie sind an den Treppen bei der Maxbrücke zu finden.
Das Buch „Schweinfurter Geheimnisse“ ist in Kooperation zwischen der Main-Post und dem Bast Medien Verlag erschienen. Das Buch (Hardcover) kostet 19,90 Euro, hat 192 Seiten und ist durchgehend bebildert. Erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Verlag: bestellungen@bast-medien.de (versandkostenfrei). ISBN: 978-3-946581-81-9