Es ist eine Situation, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat: Weil sich das neuartige Coronavirus Sars-Cov-2, das die lebensbedrohliche Lungenkrankheit Covid 19 auslösen kann, rasend schnell ausbreitet, treffen zahlreiche Länder strenge Vorkehrungen, um die Gesundheit ihrer Bevölkerung zu schützen. Ausgangssperren, Quarantäne, keine öffentlichen Veranstaltungen, Abstand zu anderen Menschen halten: Das alles zielt darauf ab, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, um die ohnehin schon recht abgespeckten Gesundheitssysteme nicht schlagartig zu überlasten.
Viren gehören seit jeher zu allen Lebensformen auf dieser Erde dazu und sie sind längst nicht alle so gefährlich, manche von ihnen sogar nützlich. Forscher haben zum Beispiel herausgefunden, dass Viren (Phagen) in Darmbakterien dazu beitragen, die Darmflora zu regulieren. Einige Viren aber sind eine Gefahr für Leib und Leben, besonders wenn ein neuartiger Virustyp auftritt, auf den unser Immunsystem noch keine Antwort kennt, wie aktuell in der Corona-Pandemie der Fall.
Ehemalige Schweinfurterin erinnert sich
Zwei große Pandemien aus dem vergangenen Jahrhundert gingen in die Geschichte ein, beide Male handelte es sich um Grippe-Pandemien. Die Influenza-Erreger wüteten damals auch in Bayern und forderten zahlreiche Todesopfer.
Schauen wir zunächst ins Jahr 1957: In diesem Jahr brach die asiatische Grippe aus, das neuartige Virus „H2N2“ verbreitete sich laut dem Lexikon „Enzyklopaedia Britannica“ von China aus in die ganze Welt und verursachte Schätzungen zufolge zwischen einer und zwei Millionen Todesfälle. In Deutschland fielen der Pandemie rund 30 000 Menschen zum Opfer.
Renate Günder aus Lohr hat uns von diesem Jahr erzählt. Die heute 79-Jährige lebte damals in Schweinfurt und hatte gerade ihren Realschulabschluss gemacht. Sie begann im September 1957 ihre Ausbildung bei der AOK in Schweinfurt. Weil es aufgrund der vielen Krankmeldungen in den Betrieben zu Arbeitsausfällen kam, zahlte die AOK das Krankengeld in bar aus, erinnert sich Günder. „Die Leute standen Schlange bis raus auf die Straße“, sagt sie. „Ich war mit im Schalterraum, um zu helfen.“ Das war eine sehr arbeitsintensive Zeit, „wir haben so viele Überstunden gemacht". Als 16-Jährige ohne Berufserfahrung ging es also gleich in die Vollen: „Frisch aus der Schule raus und mitten ins Chaos rein“, sagt sie.
Heute keine Barauszahlungen mehr
Die AOK hatte damals ihre Geschäftsstelle in der Luitpoldstraße, erklärt Frank Ruppert von der AOK Schweinfurt auf Nachfrage. Zu seiner Anfangszeit habe es sogar noch eine Barkasse gegeben, aber das sei seit vielen Jahren vorbei. Krankengeld wird laut Frank Dünisch, Direktionsleiter der AOK Schweinfurt, heute nur noch auf elektronischem Weg ausbezahlt. In der aktuellen Coronakrise sei es wichtig, dass die Prozesse reibungslos ablaufen, zumal derzeit die Geschäftsstellen für Publikumsverkehr nicht geöffnet sind. Die AOK ist aber auf die Situation „sehr gut vorbereitet“, sagt Dünisch.
Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung könne man in den Briefkasten werfen oder per Mail zusenden, möglich sei sogar, die Bescheinigung zu fotografieren und per WhatsApp zu übermitteln. Krankenkassen übernehmen ab der 7. Woche der Arbeitsunfähigkeit die Lohnfortzahlung für den Arbeitgeber, in der Regel sind das 70 Prozent des Bruttolohnes. Laut Dünisch ist es in der derzeitigen Situation der Coronakrise bei der AOK bislang nicht zu personellen oder finanziellen Engpässen gekommen, die Krise lasse sich aus Kassensicht noch gut meistern.
Verbindung zur asiatischen Grippe unklar
Zurück ins Jahr 1957, in dem Renate Günder als frischer AOK-Azubi gleich ordentlich zu tun hatte. In einem Zeitungsbericht im Schweinfurter Tagblatt vom 11. September 1957 heißt es: „In den letzten Tagen ist im Stadtgebiet Schweinfurt eine ganze Reihe von Personen an Grippe erkrankt.“ Das staatliche Gesundheitsamt teilte damals mit, „dass es sich durchweg um harmlose Fälle“ handelt, „die meist nach kurzer Zeit abklingen“. Ob eine Verbindung mit der asiatischen Grippe besteht, sei bisher nicht festgestellt worden können.
Am Donnerstag, 24. Oktober 1957, schreibt das Tagblatt: „An den 244 Grippe-Toten, die seit Mitte September in Bayern gezählt worden sind, ist Schweinfurt zum Glück nicht beteiligt.“ Nur um gleich im nächsten Satz den damaligen Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Haas, mit folgenden Worten zu zitieren, die oben Gesagtes relativieren: „Zwar hat es unter unseren Grippekranken auch einige Todesopfer gegeben, doch handelte es sich dann um altersschwache und um herz- oder lungenbelastete Patienten.“
Offenbar ging es bei den eingangs erwähnten 244 Grippe-Toten in Bayern um Opfer der berüchtigten asiatischen Grippe, von der man in Schweinfurt laut dem Gesundheitsamtsleiter „bisher keine Spur“ entdecken konnte. Jedenfalls habe man in keiner der vom Krankenhaus eingesandten Proben das berüchtigte Virus „Singapur“ (andere Bezeichnung für das Virus H2N2) gefunden, heißt es in dem Bericht. Laut dem damaligen Ortskrankenkassen-Direktor Häußler (ebenfalls kein Vorname genannt) hatte die Schweinfurter Grippewelle am 3. Oktober 1957 ihren Höhepunkt erreicht. An diesem Tag gab es 5967 arbeitsunfähig Erkrankte im Stadtbereich, den Anteil der Grippe-Kranken schätzt er auf 2500. Anschließend kritisiert Häußler das neue Krankengesetz, denn das „bietet den Anreiz, länger zu Hause zu bleiben, um in den Genuss der zweiwöchigen Karenzzeit zu kommen.“
"90 Prozent Nettolohn gratis"
Schließlich meldet sich in dem Artikel noch der „Betriebsführer eines mittelgroßen Unternehmens“ zu Wort, er bezeichnet das neue Krankengesetz als die Ursache dieser für ihn recht zweifelhaften Epidemie: „Jetzt kriegen die Arbeiter bei schlechtem Wetter 90 Prozent ihres Nettolohns gratis.“ Außerdem wird ein Apotheker zitiert: „Wenn alle diejenigen krank wären, die in den Betrieben krank gemeldet sind, dann müsste mein Umsatz erfahrungsgemäß viermal so hoch sein.“ Ein anderer Apotheker ergänzt dann noch: „Viele sind erkältet und nennen es Grippe.“
Der Volkswille (später Volksblatt), der zu dieser Zeit ebenfalls in Schweinfurt erschien, schreibt am 30. Oktober 1957, dass der Höhepunkt der Grippewelle in Bayern vermutlich überschritten worden sei. Die Bilanz bis dahin: „Seit Mitte September wurden in Bayern 426 761 Menschen von Grippe befallen. 393 Fälle verliefen tödlich.“
Blicken wir nun noch weiter zurück. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert kam es im letzten Jahr des zu Ende gehenden Ersten Weltkriegs, der etwa 17 Millionen Menschenleben gekostet hat, zu der bislang größten Grippe-Pandemie der Geschichte: „Die Spanische Grippe breitete sich in drei Wellen vom Frühjahr 1918 bis 1920 weltweit aus. Schätzungen zufolge infizierte sich ein Fünftel der Weltbevölkerung. Das Virus tötete damals zwischen 27 und 50 Millionen Menschen“, heißt es dazu im Brockhaus-Lexikon.
Sucht man im Archiv des Schweinfurter Tagblatts nach ausführlichen Berichten über diese dramatische Pandemie, wird man nicht fündig. Das alles bestimmende Thema im Jahr 1918 ist der erste Weltkrieg, auf jeder Titelseite findet sich ein ausführlicher Bericht der Heeresleitung. Liest man die Artikel über die Kampfhandlungen an den Fronten sowie den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, hat man stets den Eindruck, dass Deutschland den Krieg so gut wie gewonnen hat.
In Anzeigen werden Leser dazu aufgefordert, Gold und Schmuck abzuliefern, um den Krieg zu finanzieren. Außerdem sollen die Bürger Staatsanleihen zeichnen, damit der Sieg über die Kriegsgegner errungen werden kann. Als im November 1918 der Waffenstillstand von Compiègn unterzeichnet wird, gleichbedeutend mit der Niederlage Deutschlands, folgen Berichte über die Inflation und Hungersnot im Land, später auch empörende Artikel über den Versailler Friedensvertrag von 1919, in dem Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Kriegsschuld zugeschrieben wird.
Spanische Grippe? Die Medien berichteten kaum
Von der spanischen Grippe, die zu dieser Zeit bereits etliche Todesopfer gefordert hatte, liest man dagegen nichts. Das könnte zumindest daran gelegen haben, dass die Grippe allgemein in den westlichen Medien kaum Erwähnung fand, offenbar sollten den Bürgern Informationen vorenthalten werden. So soll auch laut Brockhaus der irreführende Name dieser Influenza entstanden sein. „Der Erreger vom Typ H1N1 stammte vermutlich von Vögeln; ungeklärt ist allerdings, ob das Virus direkt auf den Menschen übersprang oder ein Säugetier als Zwischenwirt benutzte“, heißt es dort.
Die Krankheit tauchte laut dem Lexikon erstmals im März 1918 in einem Militärcamp in Kansas (USA) auf und gelangte wahrscheinlich mit Truppentransporten nach Europa. „Da in Spanien nicht wie in anderen am Ersten Weltkrieg beteiligten Ländern Informationen über die Krankheit und ihr Ausmaß unterdrückt wurden, kamen die ersten Nachrichten über die Pandemie aus Spanien und gaben ihr den irreführenden Namen“, heißt es in dem Lexikon.