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Schweinfurt
Prozess um essgestörte Jugendliche am Landgericht Schweinfurt: Eltern fühlen sich für Tod der Tochter verantwortlich
Ein 16-jähriges Mädchen magert bis auf die Knochen ab – und stirbt. Die Eltern sprechen von einer Fehleinschätzung. Jetzt sind sie des versuchten Totschlags angeklagt.
Vater vor Gericht: Die Eltern einer 16-Jährigen müssen sich vor dem Landgericht Schweinfurt verantworten, weil sie für ihre essgestörte Tochter keine Hilfe in Anspruch genommen haben sollen. 
Foto: René Ruprecht | Vater vor Gericht: Die Eltern einer 16-Jährigen müssen sich vor dem Landgericht Schweinfurt verantworten, weil sie für ihre essgestörte Tochter keine Hilfe in Anspruch genommen haben sollen. 
Lisa Marie Waschbusch
 |  aktualisiert: 25.11.2024 02:32 Uhr

Die Eltern plagen Schuldgefühle. Sie haben die Situation falsch eingeschätzt, geben sie über ihre Verteidiger an. Die Mutter sei "immer davon ausgegangen", dass das Mädchen "die Zeit überwinden würde und alles eine gute Entwicklung nehmen würde". Der Vater habe "bis zuletzt gedacht, dass alles wieder gut wird". Doch im Dezember 2022, kurz vor Weihnachten, war ihre 16-jährige Tochter daheim im Landkreis Schweinfurt gestorben. Bei der Obduktion wog sie noch 19 Kilogramm.

Im Sitzungssaal 6 des Landgerichts Schweinfurt sitzen die Eltern am Donnerstag auf der Anklagebank. Sichtlich ergriffen verfolgen sie, wie Staatsanwalt Markus Küstner die Anklageschrift vorliest. Tränen laufen über ihre Gesichter, die Köpfe sind gesenkt. Ihnen wird vorgeworfen, mit ihrer essgestörten Tochter nicht zum Arzt gegangen zu sein. Auch nicht, als sich der Gesundheitsstatus des Mädchens nach einer Corona-Infektion und einem Magen-Darm-Infekt weiter verschlechtert haben soll.

"Versuchter Totschlag mit Aussetzung und gefährlicher Körperverletzung" steht in der Anklage. Die Eltern sollen den Tod der Tochter billigend in Kauf genommen haben.

Die Eltern sagen, ihre Tochter habe Angst vor Krankenhäusern gehabt

Diesen Vorwurf weisen die Eltern zurück, wenngleich sie einräumen, dass sie die Verantwortung für den Tod des Mädchens tragen. Die 16-Jährige sei schon immer zierlich gewesen, habe unter einer Sozialphobie gelitten, liest der Verteidiger des 51-jährigen Vaters aus dessen Einlassung vor. Sie habe Angst vor Krankenhäusern gehabt und davor, mit Corona infiziert zu werden.

Die fünfköpfige Familie, weitestgehend ungeimpft, habe während der Pandemie zurückgezogen gelebt. "Ich hätte dafür sorgen müssen, dass sie gegen ihren Willen im Krankenhaus behandelt wird", gibt der Vater jetzt an.

Die angeklagte Mutter mit ihrer Verteidigerin. Die Anwältin sagt vor Gericht, die 48-Jährige bewerte ihr Verhalten rückblickend als falsch.
Foto: René Ruprecht | Die angeklagte Mutter mit ihrer Verteidigerin. Die Anwältin sagt vor Gericht, die 48-Jährige bewerte ihr Verhalten rückblickend als falsch.

In der Erklärung der Mutter heißt es, die Vorstellung, von der Familie getrennt zu sein, sei für das Mädchen "furchtbar" gewesen. Auch sie bewerte ihr Verhalten rückblickend als falsch, lässt die 48-Jährige über ihre Anwältin erklären: "Ich kann nicht in Worten ausdrücken, wie leid mir alles tut und wie sehr ich mich ihr gegenüber schuldig fühle." Und: "Aus meiner Sicht waren wir eine ganz normale Familie."

"Die Kinder waren mir und meiner Frau immer das Wichtigste", der Tod der jüngsten Tochter - "das Schlimmste, das unserer Familie passieren konnte", findet der Vater.

Chatprotokolle zeigen fürsorgliches Bild der Eltern

Chatprotokolle zwischen den Eltern und zwischen Mutter und Tochter aus der Zeit unmittelbar vor dem Tod zeigen Fürsorglichkeit: Der Vater wird angehalten, Tee zu kochen, "mal schauen" zu gehen. Die Mutter fragt, wie es der Tochter gehe, was man mal kochen könne. "Ich bin doch eine Gluckenmama", heißt es in einer Nachricht – "und ich anhänglich" in der Antwort der Tochter.

Das Mädchen war in psychologischer Behandlung. Die Patientenakte zeichnet das Bild eines ruhigen, liebevollen Kindes, einer guten Schülerin. Eines Mädchens, das Spaß daran gefunden hat, Häkelanleitungen auf Instagram zu veröffentlichen. Aber auch eines Mädchens mit wenigen sozialen Kontakten, kaum Freunden. Eine Jugendliche, die sich stark unter Druck setzte, von Selbstzweifeln und Versagensängsten geplagt war und irgendwann nicht mehr zur Schule ging.

"Haut und Knochen": Polizist vermutet Überforderung der Eltern

Kurz vor ihrem Tod habe die Tochter mit im Elternbett geschlafen, man habe ihr Tee und Salzstangen gegeben, die sie selbstständig zu sich genommen habe. In jener Nacht im Dezember habe die Tochter gekrampft. Die Eltern versuchten noch, sie zu reanimieren, verständigten den Notarzt. Der konnte der 16-Jährigen nicht mehr helfen.

Die Beamten, die im Wohnhaus eintrafen, waren schockiert. "Der Leichnam hat mich an meine Grenzen gebracht", sagt einer der Polizisten vor Gericht. Es sei klar gewesen, dass man es hier mit einem Unterlassungsdelikt zu tun habe. "Da muss auch ein Laie sehen, dass da etwas zu machen ist." Ein anderer Beamter spricht von einem "verstörenden Anblick", einem "Skelett mit Haut und Knochen". Er vermutet, die Eltern könnten mit der Situation überfordert gewesen sein und dem Willen der Tochter nachkommen. 

Polizist im Zeugenstand: Hausärztin angesichts der Fotos geschockt

Laut Patientenakte war das Mädchen zuletzt im Dezember 2021 bei seiner Hausärztin. Als ein Beamter der Ärztin nach dem Tod der 16-Jährigen Fotos vorlegte, sei diese geschockt gewesen. Die Hausärztin habe dem Polizisten gegenüber gesagt: Bei einem solchen Zustand, hätte sie auf die Eltern eingewirkt und auf eine entsprechende Behandlung gedrängt - oder das Gesundheitsamt informiert.

Der Beamte wertete auch die Handys der Eltern aus. Zwei Tage vor dem Tod des Mädchens habe der Vater "Sterbeprozess Mensch" gegoogelt. In seiner Einlassung erklärt der 51-Jährige, er habe danach gesucht, weil ein paar Tage zuvor ein Arbeitskollege gestorben sei.

Der Prozess wird an diesem Freitag, 22. November, fortgesetzt.

 
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  • Astrid Geiger-Schmitt
    Es ist nicht leicht mit so einer Situation zurecht zu kommen. Ich hatte selber eine Essstörung und habe daheim gesagt das ich auf der Arbeit esse und andersrum genauso. Meine Eltern hatten auch keinen Einfluss darauf den ich habe akribisch darauf geachtet nicht unter 39 kg zu kommen da ich sonst zwangsernährt hätte werden können. Wenn das Mädchen in Psychologischer Behandlung war wundert es mich das der Psychologe die Eltern nicht mit ins Boot genommen hat und sie versucht haben zusammen etwas zu unternehmen. Den Eltern gebe ich keine Schuld das es leider so tragisch geendet hat denn diese Krankheit kann man leider mit Alkoholismus vergleichen. Solange man nicht dazu steht das man ein Problem hat kann einem kein Mensch helfen. Mein Beileid für die Eltern und die Geschwister.
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  • Katja Gehring
    Mir tun die Eltern einfach leid. Ich habe selbst als Jugendliche mit Essstörungen gekämpft und meine Eltern hätten niemals Gewalt über mich gehabt. Einweisen durfte man mich auch nicht, weil ich noch Herr meiner Sinne war. Letztlich ist eher zu hinterfragen warum die Psychologin/Psychologe, sie war ja offenbar in Behandlung, den Ernst der Lage nicht erkannt hat. Da liegt meines Erachtens das Versagen, wenn man unbedingt jemandem die Schuld geben will. Den Eltern gilt mein Mitgefühl. Gegen so eine Sucht ist es schwer anzukommen und man kann eigentlich alles nur falsch machen, wenn man nicht professionell begleitet wird.
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