
Das ist er also: Luca. 21 Jahre alt, dunkelhaarig, schlank, sympathisch. Im ersten Moment ertappe ich mich dabei, nach einem besonderen Merkmal zu suchen. Denn Luca ist ein ehemaliges Pflegekind. Und oftmals ist das in der Gesellschaft ein Stigma. Man kommt ja aus einer kaputten Familie. Förderlich für das Selbstbewusstsein ist das nicht. Nicht so bei Luca. Der junge Mann ist selbstbewusst und selbstsicher. Er studiert Jura im zweiten Semester, ist ein eloquenter Redner, belesen, gebildet, klug. "Er ist ein Vorzeigepflegekind", sagt Beate Gebauer vom Pflegekinderdienst des Landratsamtes Schweinfurt. Sie hat Luca behördlicherseits von klein auf begleitet und gebeten, seine "Erfolgsgeschichte" öffentlich zu machen. Um zu zeigen, wie wertvoll und wichtig Pflegeeltern sind. Um für ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu werben. Und um seine "tollen Erfahrungen in der Pflegefamilie" weiterzugeben.
Mit neun Jahren kam Luca in seine Pflegefamilie
Luca ist neun Jahre alt, als er zu seinen Pflegeeltern Sabine und Paul in eine 2000-Seelen-Gemeinde im Landkreis Schweinfurt kommt. Das war 2007. Über die Zeit davor möchte der heute 21-Jährige nicht reden. Pflegekinderdienstbetreuerin Beate Gebauer erklärt, dass es schwere familiäre Zerwürfnisse gab, die Familie längere Zeit Unterstützung durch das Jugendamt erhalten hatte und dass es nicht mehr möglich war, den häuslichen Familienverband zu stabilisieren. Luca war damals erst einmal in eine Bereitschaftspflegefamilie gekommen. Das sind Pflegeeltern, die Kinder und Jugendliche in einer akuten Krisensituation vorübergehend aufnehmen, bis für sie eine geeignete Perspektive gefunden wird. Bei Luca sei damals noch nicht klar gewesen, ob er wieder zurück in die häusliche Familie könne, so Gebauer.
Er konnte nicht. Für Luca musste eine dauerhafte Pflegefamilie gefunden werden. Solche Entscheidungen fällt das Jugendamt, wenn keine andere pädagogische und fachliche Hilfe mehr greift. Es ist die letzte Option, wenn das Kindswohl gefährdet ist.
"Wenn ich jetzt darauf schaue, ist es eine Erleichterung", sagt Luca, "damals aber, war es schwierig für mich." Dem Neunjährigen fällt die Trennung von der Mutter schwer. Es gibt regelmäßige Treffen, denn Eltern und Kind haben in dieser Zeit ein Recht auf Umgang miteinander. "Danach war er immer sehr durcheinander", erinnert sich die Pflegemutter. Und Luca weiß, dass er sehr lang gehofft hatte, wieder zur leiblichen Mutter zurückgehen zu können. Andererseits genießt er das familiäre Leben bei Sabine und Paul mit drei anderen Pflegekindern im Haus. Hier herrscht soziale Normalität. Es gibt feste Essenszeiten, eine klare Tagesstruktur, Regeln und Freiheiten, immer eine Betreuungsperson im Haus "und eine kulinarische Vielfalt, die ich so nicht kannte", verweist Luca auf das täglich frisch gekochte Essen. An der großen Tafel im Esszimmer kommt die Familie jeden Abend um 18 Uhr zusammen. Und nach dem Essen sitzt man noch beisammen, um den Tag zu reflektieren. "Das war uns sehr wichtig", sagt Sabine. Erst danach dürfen die Kinder wieder spielen.
- Lesen Sie auch: Bei Anruf Pflegekind: Wo hilfsbereite Familien parat stehen
Luca gewöhnt sich schnell ein, ist aber hin- und hergerissen. "Er hing sehr an seiner Mutter", erklärt Beate Gebauer. Eine kindliche Äußerung, die das verdeutlicht, hat sich die Behördenvertreterin damals notiert: "Ich möchte eigentlich bei Sabine bleiben oder auch zu meiner Mama gehen."
Luca war 2017 Landessieger bei "Jugend debattiert"
Zwei Jahre dauert es, bis Luca weiß: "Das hier ist meine Familie." Von da an sagt er zu Sabine und Paul Mama und Papa. "Und von da an ging es steil bergauf", erinnert sich Beate Gebauer. Luca, der in der Grundschule auffällig war und den die Lehrerin auf eine Förderschule schicken wollte, entwickelt sich zum Musterschüler. Ein Test zeigt, der Junge ist überdurchschnittlich begabt. Man rät den Pflegeeltern, Luca in ein Internat für Hochbegabte zu geben. Doch dagegen wehrt er sich mit Händen und Füßen. Gerade hat er ein Zuhause gefunden, nicht schon wieder will er weg, herausgerissen werden aus seinem sozialen Umfeld.
Sabine und Paul respektieren die Entscheidung: "Wir haben unsere Kinder nie zu etwas gezwungen." Luca bleibt an der Mittelschule, belegt den M-Zweig, macht einen hervorragenden Abschluss, wechselt auf die Fachoberschule (FOS), holt sein Abitur nach und studiert seit einem Jahr Jura an der Universität in Würzburg. Er möchte Staatsanwalt beziehungsweise Richter werden. "Auf jeden Fall nicht Rechtsanwalt." Denn Luca kann nur vertreten, was auch seine Überzeugung ist. Die Entscheidung zum Jurastudium habe er schon in der neunten Klasse getroffen. "Weil ich gut reden kann", sagt der 21-Jährige selbstbewusst. Mama Sabine bestätigt das. Schon früh habe er sich für Politik und Weltgeschichte interessiert und leidenschaftlich mit dem Papa darüber debattiert. Sein rhetorisches Talent bescherte ihm in der FOS zweimal Erfolge beim bundesweiten Wettbewerb "Jugend debattiert". 2016 wird er Regionalsieger und 2017 bayerischer Landessieger mit einem Ticket zum Bundesfinale in Berlin. "Ich war der erste Nicht-Gymnasiast auf Bundesebene", ist Luca stolz auf diesen Erfolg.
Dass ein Pflegekind schulisch so eine Entwicklung nimmt, sei eher die Ausnahme, weiß Beate Gebauer. Nicht aus Gründen fehlender Intelligenz, sondern weil bei diesen Kindern viel Energie durch die familiäre Vorgeschichte aufgebraucht werde. Pflegekinder hätten dadurch in der Regel deutlich schlechtere Startbedingungen. Nur wenige machen deshalb eine so steile Karriere wie Luca. Von Sabines inzwischen 15 Pflegekindern, die sie in den vergangenen 17 Jahren betreut hat, ist Luca der Erste, der ein Studium aufnimmt. Darauf ist sie stolz. Sie hat es nie bereut, Pflegekinder in ihre Familie zu holen, nachdem die eigenen beiden Kinder aus dem Haus waren. "Ich würde das jederzeit wieder machen, nur schon viel früher damit beginnen", sagt die 58-Jährige. Obwohl sie dadurch auch Freunde verloren habe.
"Pflegeeltern werden von der Gesellschaft oft kritisch beäugt", verweist Beate Gebauer auf so manche Vorurteile gegenüber Pflegefamilien. Dabei sei es eine hohe, intensive Form von gesellschaftlichem Engagement, seine eigene Familie zu öffnen. Für Sabine ist die Aufnahme von Pflegekindern zur Berufung geworden. "Ich wollte schon immer Kinder um mich herum haben." Vor allem die gemeinsamen Urlaube jedes Jahr in den Sommerferien im Ferienhaus am ungarischen Plattensee habe sie genossen. "Das war unsere Zeitinsel." Für sie sei es die schönste Zeit des Jahres gewesen. "Dort wusste keiner, dass wir eine Pflegefamilie sind, dort waren wir einfach eine Familie."
Rückblickend sagt auch Luca: "Es war ein Glücksfall, in diese Familie zu kommen." Zur leiblichen Mutter hat und will er keinen Kontakt. Einzig zum Opa aus der Herkunftsfamilie besteht eine Beziehung. Lucas Familie sind Sabine und Paul, sein Zuhause das schöne Wohnhaus am Ortsrand. Seit einem Jahr lebt er in seiner Studentenbude in Würzburg, am Wochenende kommt er aber gerne nach Hause. Um Mamas gutes Essen zu genießen – und mit Papa zu debattieren.