"Um ein Kind groß zu ziehen, braucht es ein ganzes Dorf." Privatdozent (PD.) Dr. Wolfgang Briegel, Chefarzt der Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Leopoldina-Krankenhaus, zitiert dieses afrikanische Sprichwort bei einem Rundgang durch die Klinik. 2006 wurde das Haus eröffnet, 2019 wurde die Klinik erweitert.
In diesen 15 Jahren hat sich viel verändert. Internet, Smartphones gehören zum Alltag für die junge Generation. Damit verbunden sind neue Probleme, sagt Briegel. Es gibt Suizid-Foren, es gibt Druck aus Sozialen Netzwerken zum Thema Aussehen. Es gibt Suchtverhalten. "Manche verlieren sich, zocken die Nacht durch, verlieren den Tag-Nacht-Rhythmus. Briegel sieht gravierende Veränderungen, die bei manchen auch psychische Veränderungen hervorriefen.
Die Ressourcen in den Familien werden knapper
Er sieht aber noch eine Veränderung: Die Ressourcen in den Familien werden knapper. Der Druck auf Alleinerziehende wachse. Eltern haben oft auch selbst Probleme, oder schafften es nicht, Grenzen zu setzen. Deswegen ist sein Ansatz: Den Eltern helfen, die Kinder quasi selbst zu behandeln, insbesondere im ambulanten Rahmen. Trotzdem könne man nicht die Eltern für alles verantwortlich machen. Auch das Umfeld spiele eine Rolle.
Aber dass es ein Dorf braucht, um ein Kind groß zu ziehen, ist geblieben. "Man braucht Zeit, man braucht Hilfe ", sagt Wolfgang Briegel. Hilfe für Eltern und Kinder gibt es in der Klinik in verschiedenen Bereichen. In der Psychiatrischen Institutsambulanz, in der Tagesklinik mit zwei Bereichen für ältere und jüngere Kinder und auf zwei Stationen (offen und geschlossen). Ambulanz und Tagesklinik kümmern sich auch um Bambini, Kinder zwischen zwei und sechs Jahren. "Ein Alleinstellungsmerkmal in Unterfranken", sagt Briegel.
Vorurteile, die sich hartnäckig halten
Was sich in den 15 Jahren nicht geändert hat, sind die Vorurteile, mit denen viele Menschen, warum auch immer, das Wort Psychiatrie verbinden. "Die Vorstellungen entsprechen nicht der Wahrheit", sagt Briegel. Die Vorurteile abzubauen, ist ihm wichtig. Wer mit ihm durch die Räume geht, sieht eine sachliche, aber freundliche Atmosphäre, fröhliche Farben und kreative Elemente. Es gibt Spielecken, einen Billardtisch und ein Fitness-Studio für die Älteren.
Und dann ist da ja noch ein besonderer Mitarbeiter: Herr Bär. 86 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus neun verschiedenen Berufsgruppen arbeiten hier. Herr Bär ist da nicht mitgezählt, er ist eine eigene Kategorie. Der Plüschpanda erklärt den Bambini nämlich den Tagesablauf. Das hilft den Kleinen, die noch nicht lesen können, sagt Briegel. Obst essen, einen Mittagschlaf machen, Zähneputzen, mit der Logopädin arbeiten: Herr Bär, zeigt, was auf dem Plan steht.
Ganz wichtig ist für Briegel die Interaktion zwischen Kindern und Eltern. Er hat die aus den USA stammende "Parent Child Interaction Therapy" (PCIT) vor 13 Jahren nach Deutschland gebracht. Was verbirgt sich dahinter? Eltern interagieren unter Anleitung mit ihren Kindern, um so gewünschte Veränderungen zu bewirken. Die Therapie ist primär für zwei- bis sechsjährige Kinder gedacht, die eine Störung ihres Sozialverhaltens aufweisen. Dazu gehören Kinder, die über das normale Maß hinaus verweigernd sind, nicht auf ihre Eltern hören, andere Kinder schlagen oder auch aus dem Kindergarten rausfliegen. Die Behandlung ist in verschiedene Phasen unterteilt. Im ersten Teil der Therapie lernen Eltern, mit ihrem Kind auf wertschätzende Weise zu spielen. Im zweiten Teil geht es zusätzlich um erzieherische Aspekte.
Therapeuten beobachten, wie Eltern und Kind agieren
Für diese Therapie gibt es einen besonderen Raum in der Klinik. Das kennt man sonst eher aus einem Fernseh-Krimi, wenn bei einem Verhör Ermittler das Gespräch aus einem anderen Raum unbemerkt durch eine Einweg-Scheibe verfolgen. Sie können wie durch ein Fenster hindurchschauen – die Personen auf der anderen Seite sehen nur einen Spiegel. Hinter dem Spiegel sitzen die Therapeutinnen und Therapeuten und geben jeweils Vater oder Mutter via Knopf im Ohr Rückmeldungen, wie sie mit ihrem Kind spielen (sollen). "Das gibt es in dieser Form sonst nirgendwo im deutschsprachigen Raum", sagt Wolfgang Briegel.
Ziel der Therapie: Eine gute Beziehung aufbauen. Sich Zeit zu nehmen. Und positive Rückmeldungen zu geben, schildert Briegel. "Das ist das A und O." Jeden Tag fünf Minuten besondere Zeit mit dem Kind zu verbringen, gemeinsam Spaß haben: Das ist eine Botschaft, die Eltern aus der Therapie mitnehmen sollen. "Wenn Eltern es nicht schaffen, etwas zu verändern, wird sich bei den Kindern nichts ändern", macht Briegel klar.
In diesem Therapieraum gibt es noch eine Tür. Sie führt zu einem so genannten Auszeitraum. Kinder, die sich nicht beruhigen wollen oder um jeden Millimeter kämpfen, weil sie den Regeln nicht folgen wollen, bekommen eine Auszeit. "Manchmal hilft nur ignorieren", sagt Briegel über Kinder mit gestörtem Sozialverhalten. Herr Bär war hier auch schon mal. Natürlich nur, um zu zeigen, wie das alles geht: Eine Minute plus fünf Sekunden am Stück Ruhe geben, dann geht es wieder zurück. Das sei nicht immer so einfach, sagt Briegel. Oft scheitere das an den fünf Sekunden.
Übungseinheit im Supermarkt
Geübt wird aber nicht nur in der Klinik, sondern auch mal im Supermarkt, wenn zum Beispiel gemeinsames Einkaufen nicht mehr geht, weil das Kind "aus dem Rahmen fällt", wie Briegel sagt. Über Funk bekommen die Eltern Rückmeldungen, wie sie sich verhalten, wie sie reagieren sollen.
Wann suchen Eltern eigentlich Hilfe? "Wenn der Leidensdruck zu groß ist", sagt Briegel. Wenn das Kind nicht mehr in die Betreuung kann, aggressiv ist, aus dem Kindergarten fliegt, zum Beispiel. Wenn klar ist: So geht es nicht mehr weiter.
Was können Eltern tun?
Was können Eltern tun, wenn sie glauben, ihr Kind hat ein Problem? Briegel rät: Fragen stellen, keine Vorwürfe machen. Fragen: "Was ist gerade los?" Phasen, in denen sich Kinder oder Teens zurückziehen, den Eltern nicht alles sagen, müssten nicht unbedingt ein Alarmzeichen sein. Kritisch werde es, wenn das Kind nicht mehr am Familienleben, den Mahlzeiten zum Beispiel, teilnehme. Wenn es nicht in die Schule geht. Wenn es sich selbst verletzt. Dann sollte man sich professionelle Hilfe holen. Briegels Rat an Väter und Mütter: "Bleibt in Kontakt mit Euren Kindern, nehmt teil, seid interessiert."