
Manche Geschichten begleiten uns ein Leben lang. Wir verlieren sie vielleicht sogar ein paar Jahre aus den Augen, doch manches erinnert uns noch an sie. Diese Geschichten führen um die Welt und enden dann doch noch an einem kleinen Esstisch. Genau so verläuft die Geschichte einer Freundschaft, die Karin Sauer erzählt.
"Das Schöne ist, dass wir uns noch nie gesehen haben, es nach über 60 Jahren doch noch dazu kommt – und wir uns dann auch noch so gut verstehen." Sie sitzt an dem Esstisch in ihrer Wohnung in Gerolzhofen. Darauf ausgebreitet: zahllose Briefe, Bilder und Postkarten.
Sie erzählt voller Freude von einer ungewöhnlichen Freundschaft, die in ihrer Schulzeit begann. 1959 ging Karin, die damals noch Schad hieß, auf die damalige "Städtische Oberrealschule für Mädchen" in Kitzingen. Im Englischunterricht wurde die Zeitschrift "The Beacon" ausgeteilt, wie sich die heute 79-Jährige erinnert. Darin hätten junge Leute aus der ganzen Welt nach Brieffreunden gesucht, um ihr Englisch zu verbessern. "Und ich hab mir Hiro ausgesucht."
Wie die Brieffreundschaft zwischen Gerolzhofen und Fukushima begann

Hiro heißt eigentlich Hiromitsu Kanakura. Er ist ein paar Jahre älter als sie, kommt aus Fukushima und studierte 1959. Schon in den ersten Briefen tauschten die beiden Fotos aus. Auf einem Bild ist Kanakura in Uniform zu sehen, wie es Sauer zufolge an japanischen Universitäten üblich war. In seinem zweiten Brief kurz vor Weihnachten 1959 schreibt er: "I bought a gift for you as I told you." - Ich habe dir ein Geschenk gekauft, wie ich es dir gesagt habe. Das Geschenk schickte er gleich mit: Ein grüner Seidenschal, den Karin Sauer noch heute hat.
Genau wie all die Briefe, die sie sich von 1959 bis 1963 geschickt haben. "Blöderweise habe ich das ganze abgebrochen, als ich geheiratet und meine Tochter bekommen habe", sagt Karin Sauer rückblickend. 56 Jahre lang haben die beiden dann nichts mehr voneinander gehört. Doch sie bewahrte den Seidenschal, die Fotos und Briefe all die Jahre auf. "Ich bin sonst niemand, der alles aufhebt", sagt sie heute, "warum ich das alles noch hatte, weiß ich gar nicht."
Erneute Kontaktaufnahme nach 56 Jahren bei Japan-Reise
Aber sie erinnerte sich daran, wie sie sagt, als sie ihren Sohn Heiko, der inzwischen vorübergehend nach Japan gezogen ist, 2019 in Tokio besuchte. Sie reiste mit ihren beiden Kindern mehrere Wochen durch das Land, und sie hat einen alten Brief mit der Absenderadresse dabei und fragt schließlich ihren Sohn: "Meinst du, wir könnten herausbekommen, ob da noch was ist?" Er probierte es, und schickte einen Brief an die angegebene Adresse.

Wie Karin Sauer erzählt, bekommt sie nach ihrer Rückkehr nachhause einen kleinen Brief – aus Schweden. Darin schreibt Hiromitsu Kanakura, er wohne seit 1975 in Stockholm. Er würde sich über Kontakt sehr freuen und lade seine alte Brieffreundin natürlich ganz herzlich mit ihrer Familie nach Schweden ein.
Skepsis beim Brieffreund und Umweg über den Bruder
Dabei kann Karin Sauer heute noch kaum glauben, dass der Brief ihres Sohnes den Japaner in Schweden überhaupt erreicht hat. Die Adresse auf den alten Briefen gebe es heute gar nicht mehr. Jemand auf dem Postamt habe aber wohl den Bruder von Hiromitsu Kanakura gekannt, und der habe die Nachricht weitergeleitet.
Karin Sauer muss heute noch lachen, wenn sie an diese Geschichte denkt, weil ihr Brieffreund aus der Jugend sich zwar noch an sie erinnern konnte – die Geschichte mit dem Sohn aber wohl nicht glauben konnte. Sie sagt, er habe sich bei der Firma des Sohns erst informiert, dass der auch wirklich existiert, bevor er geantwortet hat.
Das Kennenlernen über 60 Jahre nach dem ersten Brief
Der Kontakt war also wieder hergestellt, die beiden schreiben sich seitdem wieder – inzwischen per Mail statt Brief – und die Einladung nach Schweden wollte sie gerne annehmen. "Und dann kommt Corona", sagt Karin Sauer. Der Besuch wird also immer wieder verschoben. Im September dieses Jahres schließlich reist sie mit Tochter, Sohn und dessen Frau nach Stockholm.
Nach inzwischen über 60 Jahren treffen sich die beiden also zum ersten Mal und erkennen sich auf Anhieb. "Das muss Hiro sein, habe ich gesagt, und da hat er auch schon gewunken und gelacht", sagt Karin Sauer. "Es war kein Fremdeln, sondern gleich freundschaftlich."
Gleich am ersten Abend gab es ein Festessen, wie sie sagt. Gefeiert wurde nicht nur der Besuch, sondern auch die traditionelle Eröffnung der Flusskrebssaison. "Am Tisch haben wir uns in einem Kauderwelsch aus Deutsch, Englisch und Japanisch unterhalten", sagt Karin Sauer. Und eins hat sie in Stockholm gelassen: die Einladung nach Gerolzhofen.