Es ist ein ebenso beliebter wie abgedroschener Reflex von Deutschlehrkräften wie von Journalisten, folgende Frage zu stellen: Was hat uns der Dichter/Künstler/Philosoph heute noch zu sagen? Zum Beispiel der Arzt und Dichter Gottfried Benn (1886-1956)? Peter Lingens, Vorsitzender der Gottfried-Benn-Gesellschaft, vermutet: "Die Frage würde Benn wohl damit beantworten, dass er uns gar nichts sagen will, denn seine Kunst sei monologisch."
Benns Werk erfreut sich dennoch stabiler Beliebtheit, seine Bücher werden immer wieder neu aufgelegt und in andere Sprachen übersetzt, an Universitäten wird sein Werk erforscht. Was also fasziniert die vielen Fans im In- und Ausland so am Werk dieses expressionistischen Dichters, der so oft am Leben, an den Menschen und vor allem an sich selbst verzweifelte? Der für seine drastischen Darstellungen der Schattenseiten des Lebens bekannt wurde und dessen anfängliche Unterstützung der Nationalsozialisten bis heute ein Makel in seiner Biografie ist?
Wer Antworten auf diese Fragen will, findet sie vielleicht am 3. und 4. Mai in Schweinfurt. Erstmals hält die international aufgestellte Gottfried-Benn-Gesellschaft dort ihr – auch für Besucherinnen und Besucher offenes – Jahrestreffen ab. Auf dem Programm im Museum Otto Schäfer stehen Referate und Vorträge, etwa zum Briefwechsel des Dichters mit Gertrud Zenzes. Zenzes war kurzzeitig Benns Geliebte und blieb nach Beendigung des Verhältnisses seine langjährige (Brief-)Freundin. Der Dichter sagte, sie sei "der Mensch, der vielleicht am tiefsten und nachhaltigsten auf mich gewirkt hat".
Das brutale Leben komprimiert in Worte gefasst
Damit das Werk selbst nicht zu kurz kommt, wird der Schauspieler Charles Brauer, selbst Mitglied der Gottfried-Benn-Gesellschaft, im Rahmen der Jahrestagung Gedichte und Briefe lesen.
Die Verbindung zu Schweinfurt kam durch Stefan Muffert zustande, selbst Arzt und Schatzmeister der Benn-Gesellschaft. Er hat beobachtet, dass Benn-Fans vollkommen unterschiedliche Leute sind. Ihn selbst hat eine Freundin zu Studienzeiten auf den Dichter aufmerksam gemacht, dessen Werk ihn seither nie mehr losgelassen hat. "Mich fasziniert, dass Benn das brutale Leben so komprimiert in Worte zu kleiden weiß", sagt Muffert.
Der 1912 erschienene erste Gedichtband "Morgue und andere Gedichte" (Morgue bedeutet Leichenschauhaus) provozierte wegen der drastischen Themen und unverblümten Sprache einen Skandal und machte Gottfried Benn schlagartig bekannt. Benn beschreibt zum Beispiel detailliert Obduktionen im Sektionssaal. Die Gesellschaftskritik, die dabei immer mitschwingt, ist für Stefan Muffert aktueller denn je: "Von den Kindertafeln wissen wir, dass ein Fünftel der Kinder heute ohne Frühstück in die Schule kommt."
In den Mitteilungsheften der Gesellschaft setzen sich Experten wie Mitglieder mit vielen Aspekten zu Benn auseinander. Etwa mit der Bedeutung des Parfums "Mouchoir de Monsieur" von Guerlain, das der Dichter trug und auch in seinen Werken erwähnte. Oder – unter dem Titel "Benns politische Fehlentscheidung" – mit dessen anfänglicher Unterstützung der Nazis und seiner Rolle bei der Gleichschaltung der Preußischen Akademie der Künste.
Der Dichter distanzierte sich sehr bald, war seinerseits Anfeindungen ausgesetzt, seine Werke wurden im NS-Staat nicht mehr publiziert. "Das wird dennoch weiterhin intensiv diskutiert", sagt Stefan Muffert. "Das Kapitel steht in unversöhnlichem Widerspruch zu seinem restlichen Leben. Es passt gar nicht dazu."
Das Programm des Jahrestreffens steht auf gottfriedbenn.de Interessenten können sich noch unter info@gottfriedbenn.de anmelden.