In Europa sind 90 Millionen Menschen tätowiert. In Deutschland 16 Millionen, jeder Fünfte also. Oft kommen bei den Körper-Kunstwerken Farben zum Einsatz - doch könnte sich das nun ändern? Denn zum 4. Januar mussten Europas Tätowiererinnen und Tätowierer auf neue Farben umstellen. Zwei Drittel der Palette war nach der jüngsten REACH-Verordnung der EU nicht mehr zugelassen. REACH steht für Registration, Evaluation, Authorisation of Chemicals (Registrierung, Bewertung und Zulassung von Chemikalien). Analysiert werden dabei Farben der gesamten Kosmetik-Branche. 4000 Substanzen wurden beanstandet, teils als krebserregend.In Nagellacken, Lippenstiften, Permanent-Art-Tinten - und eben Tätowierfarben.
Groß war die Aufregung in der Szene: Würden bunte Tattoos künftig "verboten" sein? Tätowierer Marc Bata, Inhaber des Schweinfurter Studios "White Lightning", winkt ab: "Wir haben uns vor vielen Jahren schon einmal umgestellt, arbeiten heute mit bestem Material. Früher waren Hygienestandards und Farben schlechter." Dennoch seien ihm in seinem Umfeld keine Krebserkrankungen, die auf Tätowierfarben zurückzuführen wären, bekannt.
Für den Arzt und Physiker Wolfgang Bäumler garantieren solche persönlichen Erfahrungswerte nicht automatisch die Unbedenklichkeit der Farben. Der Professor für experimentelle Dermatologie am Uniklinikum Regensburg erklärt jedoch auf Nachfrage: "Es existieren keine wissenschaftlichen Daten. Weder um zu warnen, noch zu entwarnen."
Was beinhaltet die neue EU-Verordnung für Tätowierfarben?
Bereits seit 2007 sind Hersteller und Importeure von Chemikalien verpflichtet, alle Stoffe bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) registrieren zu lassen. Die aktuelle REACH-Verordnung sorgte für ein Verbot vieler Tätowierfarben. Dazu steht auf der ECHA-Homepage: "Chronische allergische Reaktionen dürften dank der Einschränkung zurückgehen. Schwerwiegendere Auswirkungen wie Krebs, Schädigung unserer DNA oder des Reproduktionssystems könnten ebenfalls zurückgehen." Dürften, könnten - "viel Konjunktiv", sagt Bäumler. "Das ist eine reine Risikoabschätzung: Im Zweifelsfall hat die ECHA sicherheitshalber alle in Frage kommenden Substanzen verboten."
Wie gefährlich waren die alten Farben wirklich?
Der Bundesverband Tattoo (BVT) reagiert auf fehlende wissenschaftliche Belege über seinen zweiten Vorsitzenden Daniel Rust: "Nicht wenige der Grenzwertbestimmungen beruhen mehr auf Vermutungen als auf Wissen." Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bestätigt lediglich: "Unsere Studie hat gezeigt, dass in den Lymphknoten, die in der Nähe von Tätowierungen waren, Pigmente auflaufen." Gegenüber dem Bayerischen Rundfunk sagte Prof. Andreas Luch, Leiter der Chemikaliensicherheit des Instituts, aber auch: "Die Pigmente werden vom Körper als Verunreinigung wahrgenommen, der kann damit nichts weiter anfangen, außer zu versuchen, diese zu entfernen. Es ist nicht geklärt, ob die Stoffe dort liegenbleiben."
Bäumler ergänzt: "Wir können nicht sagen: Wer am halben Körper tätowiert ist, hat das Krebsrisiko x. Es gibt keine gesicherten Daten über einen Zeitraum von 30 Jahren." Anders als bei Alkohol, Nikotin oder Zucker. Die EU habe die Zusammensetzung von Tätowierfarben bereits 2003 regulieren wollen, Bäumler selbst sei in den Prozess involviert gewesen. Doch sei dieser "im politischen Gestrüpp verschwunden".
In Deutschland ist 2009 die Tätowiermittelverordnung in Kraft getreten, die eine Liste jener Farbstoffe beinhaltet, die in Deutschland nicht verwendet werden dürfen - darunter sind auch Azofarbstoffe, die in Kfz-Lacken enthalten sind. In der jetzigen EU-Verordnung, an der seit 2014 gearbeitet und die 2020 beschlossen wurde, vermisst Bäumler eine solche Fokussierung auf "die schlimmsten Stoffe"; er hätte aus Gründen der Nachvollziehbarkeit Substanzen, die "nicht mehr als eine chemische Verunreinigung darstellen", nicht zur Grundlage des Verbots gemacht.
Was hat sich tatsächlich zum 4. Januar 2022 verändert?
Wenig. Drei der wichtigsten Farbhersteller - "I am Ink", "World Famous Ink Limitless" und "Kuro Sumi Imperial" - haben gerade noch rechtzeitig vor Jahreswechsel Farben auf den Markt gebracht, die den REACH-Richtlinien entsprechen. "Wir reden über maximal zwei Wochen, in denen die Farben nicht lieferbar waren", sagt Tätowierer Marc Bata aus Schweinfurt. Warum die Hersteller so lange gewartet haben, obwohl sie seit 2020 vorbereitet waren, ist Bäumler "ein Rätsel".
Wie gut sind die neuen Farben?
Der 45-jährige Bata, seit zwei Jahrzehnten im Geschäft, spricht von sehr guten Ergebnissen. "Aber es gibt keine längerfristigen Erfahrungswerte. Der Körper ist keine Leinwand, sondern ein Organismus." Bäumler ist skeptischer: "Es gibt keine offizielle Zulassung der Farben. Die Hersteller müssen lediglich garantieren, dass sie die Verordnung erfüllen. Die Kontrolle liegt bei den nationalen Behörden. Das wird für die sicher spaßig werden. Allein in Berlin gibt es 8000 Tattoo-Studios." Letztlich müsste jedes Fläschchen analysiert werden.
Wird es weitere Veränderungen geben?
In der aktuellen REACH-Verordnung bereits enthalten ist ein Verbot der Pigmente Blau 15:3 und Grün 7, die in zahlreichen Farben enthalten sind und als krebserregend eingestuft werden. Für sie gilt eine verlängerte Übergangsfrist bis Januar 2023. Bata: "Stand jetzt wäre dies das Aus für sehr viele Farben. Ohne Grün-Blau-Pigmente wird es schwierig." Er setzt erneut auf die Kreativität der Farbentwickler. Dermatologe Wolfgang Bäumler schließt indes nicht aus, dass die Hersteller ("das sind kleine Firmen, überwiegend aus den USA") den europäischen Markt erst einmal ausklammern könnten.
Zumal in der Szene Gerüchte kursieren, so Bata, dass rote und gelbe Pigmente in der EU möglicherweise ebenfalls verboten werden könnten. Allergologin Dr. Vera Baur, Oberärztin am Klinikum Nürnberg Nord, bestätigt das indirekt: "Rund 1,2 Prozent aller Tattoos sorgen für kontaktallergische Reaktionen, bei Rot am häufigsten." Baur befürwortet die REACH-Verordnung in soweit, als dass "es von Vorteil ist, wenn als Allergene eingestufte Substanzen nicht mehr in den Farben enthalten sind". Anders als bei anderen Allergenen, bei denen die Zufuhr gestoppt werden könne, blieben die Substanzen bei einem Tattoo ja in der Haut.
Wie reagieren Tätowierer und Kunden auf die neue EU-Verordnung?
Die Branche hat angefangen, sich zu wehren: Petitionen wurden gestartet, die bekannteste kommt aus Österreich ("save the pigments") und hat aktuell 180000 Unterstützerinnen und Unterstützer. Bata sieht die Entwicklung entspannt, das Gros seiner Kunden bevorzuge schwarz, grau und weiß. Es sei ihm bis dato kein Kunde oder keine Kundin abgesprungen, weil sie den neuen Farben nicht trauen würden. Eine Torschlusspanik-Nachfrage zum Jahresende habe er nicht ausmachen können und erwarte auch keine - die Terminbücher seien ohnehin voll. Lediglich eine Veränderung ist messbar: Die neuen Farben kosten fast doppelt so viel. Was für Kunden kaum zu Buche schlage: Selbst extrem stark Tätowierte trügen kaum mehr als 250 Milliliter Farbe in der Haut.
Droht ein Abrutschen der Tattoo-Branche in die Illegalität?
Tätowierer Marc Bata fürchtet einen "Tattoo-Tourismus", sollten weitere Verbote folgen: "Was haben wir gewonnen, wenn die Leute sich nicht mehr innerhalb der EU tätowieren lassen? Ist die Farbe, wenn sie es überhaupt sein sollte, woanders weniger krebserregend?" Schlimmer noch wäre eine Abwanderung in die Illegalität: "Wir haben das im Lockdown erlebt: Die Friseure hatten zu, doch es gab frische Frisuren." Nur sei das Tätowieren in Hinterzimmern eben gefährlicher. "Ich will das nicht, dazu habe ich mir mein Studio zu lange und seriös aufgebaut." Bäumler warnt: "Wird Tätowieren wirklich sicherer? Ich vergleiche die Verbote mit der Prohibition der 20er-Jahre in den USA. Dabei ist nichts Sinnvolles herausgekommen."
Aber das wichtigste ist ja anscheinend, dass man auffällt.
Deswegen sind sie absolut notwendig. Für die Kontrolle braucht man nun einmal Beamte.
Wie soll denn ein Mensch mündig sein wenn ihm wichtige Informationen vorenthalten werden (z.B. mangelnde Kennzeichnungen seitens der Lebensmittelindustrie) oder er sie gar nicht versteht?
Auch wenn REACH nicht perfekt ist hat es in vielen Bereichen zu Verbesserungen geführt.
Die Bekämpfung der Tabaksucht, die tatsächlich von diversen Nutznießern behindert wird, ist ein völlig anderes Thema.
zahlen dann wir alle über unsere Krankenkasse.
Vermutlich wurden früher und in anderen Kulturen aber ganz andere Materialen verwendet als heutzutage. Insofern kann man das sicher nicht immer vergleichen.
Die eingebrachten Farbstoffe haben sich bislang jedenfalls im Körper der Tätowierten angereichert und konnten durchaus auch bei inneren Organe unnötige Belastungen auslösen. Es gab auch schon Aufenthalte in Krankenhäusern wegen Langzeitfolgen von Tätowierungen.