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Schweinfurt
Frau stürzt bei Flucht vor Ex-Freund aus dem 3. Stock und wird schwer verletzt. Hat ein Polizist eine Mitschuld?
Vor dem Schöffengericht muss sich ein pensionierter Beamter wegen Freiheitsberaubung durch Unterlassen verantworten. Er soll einen Notruf nicht ernst genommen haben.
Der Notruf der Polizei (110) klebt an einem Polizeiwagen.
Foto: Peter Kneffel | Der Notruf der Polizei (110) klebt an einem Polizeiwagen.
Stefan Sauer
Stefan Sauer
 |  aktualisiert: 15.07.2024 02:39 Uhr

Am 13. Juni 2022 geht bei der Münchner Polizei unter der Nummer 110 ein Notruf ein. In einer Schweinfurter Wohnung im Deutschhof werde eine Frau von einem Ex-Freund festgehalten und wohl auch geschlagen. Sie habe sich trotz klarer Vereinbarung bisher nicht gemeldet, sagt der 32-jährige Bekannte. Es gehe um Freiheitsberaubung. Der Beamte in München verweist den Anrufer auf die Polizei in Schweinfurt und gibt ihm deren Nummer.

Der Polizist in Schweinfurt aber soll den Anrufer an die Münchner Polizei verwiesen haben, er solle seine Angaben dort schriftlich machen beziehungsweise dokumentieren lassen, so die Anklage. Er sei von dem Beamten dort "nicht ernst genommen und sogar beleidigt worden", sagt der Anrufer nun als Zeuge vor dem Schweinfurter Schöffengericht. Der Polizist habe einfach aufgelegt. Von sich aus habe er anschließend erneut den Münchner Notruf gewählt. Von dort aus sei der Schweinfurter Dienstgruppenleiter dann aufgefordert worden, "einen Einsatz anzulegen", so die Anklage.

Die Frau flieht und stürzt in Panik vom Balkon

Gegen 16.22 Uhr habe der Schweinfurter Polizist eine Streife beauftragt, zu der benannten Wohnung zu fahren, doch zu diesem Zeitpunkt sei die heute 31-Jährige bei ihrem in Panik gewagten Fluchtversuch über den Balkon im dritten Stock bereits acht Meter in die Tiefe gestürzt – mit schlimmen gesundheitlichen Folgen für sie: Von 18 Brüchen in vielen Bereichen des Körpers berichtet das Opfer im Zeugenstand, von sieben Operationen und einigen Folgen, die bis heute andauerten und von denen nicht gesagt werden könne, ob sie irgendwann wieder ganz verschwänden.

Der 21-Jährige, der die Frau in seiner Wohnung eingesperrt und ihr das Handy angenommen hatte, der nach ihren Angaben völlige Kontrolle über sie ausüben wollte, wurde bereits Anfang Juni letzten Jahres wegen Freiheitsberaubung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Die schwere Gesundheitsschädigung durch den Sturz in die Tiefe infolge ihres Fluchtversuches aber wollte das Gericht dem 21-Jährigen nicht strafrechtlich anrechnen.

Hätte eine Streife rechtzeitig vor Ort sein können?

Die Staatsanwaltschaft tut genau dies in ihrem Anklagevorwurf gegen den 61-jährigen pensionierten Polizisten, der den Notrufer aus München abgefertigt haben soll, anstatt umgehend eine Streife zum Tatort zu schicken. Der Vorwurf lautet: Freiheitsberaubung durch Unterlassen mit schwerer Gesundheitsschädigungsfolge. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wäre die 31-Jährige bereits gegen 16.11 Uhr, jedenfalls noch vor ihrem Fluchtversuch, aus der Wohnung befreit worden, wenn der Angeklagte sofort eine Streife geschickt hätte, sagt der Staatsanwalt. Damit wären auch die Sturzfolgen unterblieben.

Der Leiter der Münchner Notrufzentrale wundert sich, dass der Anrufer vom Schweinfurter Kollegen nach München zurückverwiesen und ihm offenbar nicht geglaubt wurde: "Wenn es bei uns heißt, eine Frau wird festgehalten und möglicherweise geschlagen, fahren wird hin. Wir haben nicht zu bewerten, ob der Anrufer glaubhaft ist." Seine ebenfalls mit dem Anruf befasste Kollegin sagt: "Wenn solche Straftaten gemeldet werden, ist es gar nicht mehr in meinem Ermessen, ob ich einen Einsatz anlege – das muss ich." Bei "Freiheitsberaubung" gingen "alle Alarmglocken an".

Der Vorsitzende versucht herauszufinden, ob bei sofortigem Losschicken einer Streife der Sturz der Frau vom Balkon hätte verhindert werden können. Der Prozess wird am 16. Juli fortgesetzt.

 
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  • Norbert Sandmann
    Ein Deja Vu wie es im Buche steht, einen beinahe gleich liegenden Falle musste ich in den frühen 2000er Jahren erleben, nur, dass es ich in umgekehrter Reihenfolge abspielte.
    Damals war ich der der Anrufer der per Notruf von einer Bedrohungslage in München der hiesigen Polizei berichtete. Auch damals schien der diensthabende Beamte überfordert um den Notruf an die Münchner Kollegen weiterzuleiten. Es kostete damals wertvolle Minuten um mein Gegenüber von der Dringlichkeit zu überzeuen. Die Münchner Beamten konnten anschließend, nach dem sie den Aggressor in einem psychischen Ausnahmezustand antrafen, Schlimmeres verhindern.
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  • Manfred Englert
    Nun, da könnte man diesem Münchner Kollegen auch mal sagen, daß er selbst die SW Kollegen hätte benachrichtigen können, denn offensichtlich hat er den Anrufer ernst genommen.
    Den Auftrag hätte der SW Polizist bestimmt nicht "abgewimmelt"!
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