
Am Abend des 19. Dezember kommt es im Treppenhaus zu einem lautstarken Streit zwischen dem Opa und seinem 19-jährigen Enkelsohn. Letzterer bewohnt eine Wohnung im Haus der Großeltern in einer Gemeinde nahe Schweinfurt. Der Opa will gerade einen Kumpel seines Enkels rausschmeißen, der seit Tagen bei diesem unterkommt und nach Auffassung des Großvaters einen schlechten Einfluss auf diesen ausübt. In die verbale Auseinandersetzung mischt sich dann unvermittelt eine 44-jährige Frau ein, die ihre im selben Haus lebende Mutter besucht.
Hat die Geschädigte gespuckt und geschlagen?
Schließlich soll der 19-Jährige der Frau an den Hals gegriffen und sie mit einer Hand gewürgt haben. Mit der anderen Hand habe er ihr plötzlich ein ausgeklapptes Einhandmesser drohend vors Gesicht gehalten und gesagt, er werde sie "abstechen". Dazu habe er sie mit üblen Ausdrücken beleidigt. Das wirft der Staatsanwalt dem 19-Jährigen vor der Großen Jugendkammer des Landgerichts Schweinfurt vor. Die 44-Jährige habe sich gewehrt, dem 19-Jährigen ins Gesicht gespuckt und geschlagen, worauf dieser sein Messer drohend in ihre Richtung gehalten habe.
Als die Frau sagte, er solle doch zustechen, habe der 19-Jährige ausgeholt, um sie in den Hals zu stechen. Dazu sei es nur deshalb nicht gekommen, weil eine 35-jährige Hausbewohnerin "in letzter Sekunde den Arm des Angeklagten packte und nach unten drückte", so die Anklage. Der Tatvorwurf: gefährliche Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung und versuchter Totschlag. Seit einem halben Jahr sitzt der junge Mann nun in Untersuchungshaft.
"Das Messer tauchte vor der Nase auf"
Wollte der Angeklagte die 44-Jährige, die ihn mit ihrer Einmischung in eine Angelegenheit zwischen ihm und seinem Großvater genervt hatte, tatsächlich "abstechen"? Auf keinen Fall, sagt dieser. Er habe aber von ihren fast täglichen Vorhaltungen die Nase voll gehabt: "Ich wollte nur, dass sie weggeht." Ein paar Beleidigungen in ihre Richtung könne er nicht ausschließen, sich aber auch nicht mehr konkret daran erinnern.
Was die Messerattacke betrifft, kann sich die Geschädigte nun lediglich noch daran erinnern, dass "das Messer direkt vor meiner Nase auftauchte". Gezielt habe der 19-Jährige die Waffe nicht auf sie zubewegt. Kurz nach der Tat habe sie bei der Polizei noch von "Stichbewegungen" gesprochen, hält ihr die Kammervorsitzende vor. Die 44-Jährige hatte damals allerdings 2,4 Promille Alkohol im Blut. Dass sie sich kaum an Details erinnere, könne auch daran liegen.
Geschrei und gegenseitige Beleidigungen
Die 35-jährige Bewohnerin aus dem Dachgeschoss, die ein mögliches Zustechen des Angeklagten verhindert hat, ist durch "allgemeines Geschrei mit gegenseitigen Beleidigungen" auf die Auseinandersetzung im Treppenhaus aufmerksam geworden. "Misch dich nicht ein, das ist eine Sache zwischen mir und dem Opa", habe der Angeklagte zu der 44-Jährigen gesagt. Diese habe ihn aber die ganze Zeit beleidigt und provoziert: "Stech' doch zu, stech' doch zu" habe sie ihm zugerufen, so die Zeugin. Die Geschädigte sei jedenfalls "total besoffen" gewesen.
Der psychiatrische Sachverständige sieht beim Angeklagten keine Anzeichen für eine eingeschränkte oder gar aufgehobene Schuldfähigkeit. Im Fall einer Jugendstrafe zur Bewährung sei eine gute Tagesstruktur und Arbeit empfehlenswert. Der Staatsanwalt sieht die Anklage weitgehend bestätigt, auch den versuchten Totschlag, hält aber eine Jugendstrafe zur Bewährung für vertretbar. Der Verteidiger sieht dagegen keinen Vorsatz für versuchte Tötung, kommt aber zur selben Schlussfolgerung: Bewährungsstrafe. Er beantragt auch die Aufhebung des Haftbefehls. Dem entspricht die Kammer. Am Ende des ersten Verhandlungstags wird der 19-Jährige auf freien Fuß gesetzt.
Trainingskurs und 80 Arbeitsstunden
Tags darauf fällt das Urteil: Das Gericht erkennt lediglich auf schuldig der einfachen Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung und Bedrohung. Nach Jugendstrafrecht muss der 19-Jährige an einem sozialen Trainingskurs teilnehmen und 80 Arbeitsstunden ableisten. Die Kammer hat Zweifel an einem bedingten Tötungsvorsatz des 19-Jährigen und erkennt auf einen "strafbefreienden Rücktritt" vom Versuch nicht nur einer Tötung der 44-Jährigen, sondern auch der gefährlichen Körperverletzung. Die 35-jährige Mitbewohnerin habe lediglich beruhigend auf den Angeklagten eingewirkt und seine messerführende Hand nach unten gedrückt. Hätte er die ihn provozierende 44-Jährige töten wollen, hätte er seine Nachbarin nur wegschieben müssen.
Gegen das Urteil ist Revision möglich.