Es war eine Nacht des Hoffens und der abgrundtiefen Angst, eine Nacht im Schlamm und Schmutz, eine Nacht des Vorwärts und Zurück. In dieser Nacht vom 9. auf den 10. August 1989 gelang der vierköpfigen Familie Gutsch wenige Monate vor dem Mauerfall die Flucht aus der DDR. Der Fluchtweg führte über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik. Heute wohnt die Familie in Traustadt.
Silvia (damals 33) und Dieter Gutsch (36) hatten genug. Der Grad der Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der DDR und mit dem Leben im sachsen-anhaltischen Köthen war ständig gewachsen. Jahrelang bekam die Familie kein Auto, obwohl sie das Geld dafür hatte. 1988 wollten Gutschs einen Ausreiseantrag stellen. Doch man riet ihnen, das zu lassen. Die beiden Töchter Romy (10) und Marion (13) wurden ständig in der Schule befragt. Der Grund: Familie Gutsch war schon dreimal nicht zur Maifeier gekommen, dem wichtigsten Feiertag der DDR. Hier wollte der Staat seine Allmacht demonstrieren.
Bürger an der kurzen Leine
Silvia Gutsch fühlte sich mehr und mehr entmündigt. Sie war die treibende Kraft, um die Flucht vorzubereiten. Die Kinder sollten es einmal besser haben. In Untereuerheim hatte die Familie Gutsch Verwandte. Mit ihnen wollten sich die Gutschs am Plattensee in Ungarn treffen. Visa für den einwöchigen Urlaub im sozialistischen Bruderstaat bekamen sie; allerdings wurde diese kleine Freiheit durch einen nur geringen Umtauschbetrag von Ost-Mark gleich wieder eingeschränkt. Der Staat nahm seine Bürger an die kurze Leine.
Über ihre Fluchtpläne informierten die Gutschs nur wenige gute Freunde. Falls die Absetzung in den Westen gelingen sollte, war ein Telegramm mit der Tarnnachricht "Der Waschmaschinen-Monteur kommt am Freitag" vereinbart.
Vom Balaton aus nahm die Flucht dann ihren Lauf. In einen Streifen von 20 Kilometer Breite längs der ungarisch-österreichischen Grenze durfte kein DDR-Auto einfahren. Deshalb fuhr ein westdeutscher Verwandter mit seinem Auto. Der Wartburg, auf den die Familie so lange gewartet hatte, blieb am Plattensee stehen.
Viele Grenzsoldaten
Es war schon dunkel, als der westdeutsche Wagen auf kerzengerader Straße auf die Grenzstation zufuhr. Dort hielten sich aber viele Grenzsoldaten auf, die mit Leuchtpistolen ausgestattet waren. Deshalb fuhren die Fluchtwilligen und ihr Chauffeur wieder neun Kilometer zurück ins ungarische Hinterland. In einem Dorf ließ der Fahrer die vierköpfige Familie mit den beiden Töchtern Marion und Romy aussteigen.
Über Felder liefen die Vier Richtung Grenze. Bald waren sie schlammverschmiert. "Wir glaubten zu wissen, die ungarischen Grenzer schießen nicht mehr. Aber sie hätten uns festnehmen und zur DDR-Grenze zurückbringen können", erzählt Silvia Gutsch. Und Tochter Marion beschreibt eine Angst, wie sie sie sonst noch nie in ihrem Leben gehabt hat, auch nach der Flucht nicht. Im Staatsbürgerunterricht daheim in der Schule hatte man den Kindern gesagt, was mit aufgegriffenen Republikflüchtlingen passiert: Die Eltern kommen ins Gefängnis, die Kinder in ein Heim.
Kein Vergleich mit den innerdeutschen Grenzanlagen
Doch die Familie gelangte unbehelligt bis zum Grenzzaun. Ein anderes Gerücht, das unter DDR-Bürgern die Runde machte, stimmte zumindest an dieser Stelle nicht. Der Zaun war nicht zerschnitten, sondern stand. Als Hindernis war er allerdings kaum zu vergleichen mit den ausgeklügelten Grenzanlagen zwischen der DDR und der Bundesrepublik.
Nach und nach stiegen die Vier über den Zaun und standen im Niemandsland. Jetzt lag das nächste Hindernis vor ihnen: der Einser-Kanal, der in der Zeit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zur Entwässerung des ansonsten abflusslosen Neusiedler Sees Richtung Donau angelegt worden war.
"Wir wussten nicht, wie tief und gefährlich das Gewässer war", erinnert sich Marion. Die Familienmitglieder legten noch einen Teil des Wenigen, was sie am Leib hatten, ab, darunter auch die Schuhe. Als erste stieg die Mutter ins Wasser, dann die beiden Töchter, zuletzt der Vater. Dann wieder ein Zurück. Mutter und Töchter dachten, dass mit Dieter Gutsch etwas nicht stimmt, er vielleicht ertrinken könnte. Sie schwammen wieder ans Ostufer zurück und dann mit dem Vater wieder vorwärts gen Westen.
Endlich in Österreich
Alles ging gut, die Familie erreichte endlich österreichisches Staatsgebiet, buchstäblich nur mit dem Hemd am Leib. Beim Ablegen der Kleidung waren etliche Teile davongeschwommen. Der erste Ort im Westen, auf den die Flüchtlinge stießen, hieß Pamhagen, nahe am Neusiedler See im Burgenland. Dort klingelten die Gutschs an der Polizeistation, gingen dann aber weiter, weil plötzlich wieder die Angst aufkeimte, dass auch die österreichische Polizei die Flüchtlinge wieder nach Ungarn zurückbringen könnte. Aber auch ohne die Angst vor der Polizei stand ständig die Überlegung im Raum, doch wieder nach Ungarn zurückzugehen - freiwillig.
Der Freiheitsdrang indes obsiegte. Ziel war nun trotz aller Bedenken Frauenkirchen, wo auf einem Zeltplatz ein weiterer Verwandter aus Westdeutschland warten sollte. Als sie einen Lkw-Fahrer nach dem Weg fragten, bot der ihnen an, sie mitzunehmen. Und wieder die Angst, dass der Lkw-Fahrer die ungarische Grenze ansteuern könnte.
Geschafft: angekommen auf dem Zeltplatz
Doch der Lkw fuhr nach Frauenkirchen. Nachts um halb vier gelangten die Flüchtlinge auf dem Zeltplatz an und fielen sofort im Vorzelt des Verwandten in tiefen Schlaf. Da machten auch die 50 bis 70 Mückenstiche, die jeder der vier Flüchtlinge im sumpfigen Grenzgebiet abbekam, nichts mehr aus.
"Ich begrüße die Herrschaften" - noch genau erinnern sich die Gutschs an die Worte des Zeltplatzbesitzers am nächsten Morgen. Der kurze Satz blieb vor allem deshalb im Gedächtnis der Flüchtlinge haften, weil die Vokabel "Herrschaften" in der DDR nicht existent war. Die Familie fühlte sich plötzlich als wer. Erste Aufgabe war es nun, das Telegramm mit dem Code für die gelungene Flucht an die Freunde drüben abzuschicken. Und Silvia Gutsch schrieb Briefe an ihre Mutter und Schwiegermutter, in denen sie um Verständnis für die Flucht bat - der Kinder wegen. Selbst diese nahen Verwandten hatten nichts von der Absicht der Familie gewusst, die DDR zu verlassen.
Vom Auffanglager in Gießen in eine Kellerwohnung nach Schweinfurt
Irritationen gab es dann noch einmal an der österreichisch-deutschen Grenze bei Passau. Die Grenzer monierten, dass die Familie Gutsch keine Visa für die Bundesrepublik hatte. Ein letztes Mal keimte die quälende Angst auf, kurz vor dem Ziel wieder zurückzumüssen. Die Kontrollorgane ließen die Flüchtlinge passieren. Die Familie kam als erstes in ein Auffanglager in Gießen, wurde dann nach Schweinfurt geschickt, wo sie eine Kellerwohnung bezog. Am dritten Tag hatte Dieter Gutsch wieder eine Arbeit in seinem Beruf als Fliesenleger. Die Firma Ludwig Heger stellte ihn ein. Auch seine Frau bekam bald eine Arbeit bei der Lebenshilfe in Schonungen.
Schwer in der Schule
Ein Jahr danach bezog die Familie eine Mietwohnung in Untereuerheim. Seit 2006 lebt sie in Traustadt. Nicht einfach war es für Tochter Marion, in der Schule den Anschluss zu finden. Sie musste in der Realschule noch einmal die 7. Klasse absolvieren, weil ihr die Englischkenntnisse fehlten. In der DDR war nun mal Russisch die erste Fremdsprache. Romy dagegen durfte gleich in die 5. Klasse in der Hauptschule.
In ihrer Klasse musste Marion fast in jeder Stunde erzählen, wie das Leben in der DDR war und wie die Flucht gelang. "Wir waren damals Exoten", erinnert sie sich. In der Tat: Im Spätsommer 1989 waren Kontakte zwischen West- und Ostdeutschen immer noch die Ausnahme.
Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 machte die DDR allen Flüchtlingen das Angebot, straffrei zurückzukommen. Wieder war es Silvia Gutsch, die sagte, sie werde nie wieder in dieses Land zurückgehen. "Erst damals erfuhren wir, wie überwacht und eingesperrt wir eigentlich waren", sagt sie. Und Marion ergänzt: "Schon als Kinder haben wir gemerkt, dass das nicht stimmte, was man uns erzählte." Zum Beispiel die immer wieder in den Medien verbreitete Behauptung, in der BRD gebe es nur Arbeitslose und Drogensüchtige.
Als die Wende nur drei Monate nach der Flucht tatsächlich kam, dachten die Gutschs natürlich zunächst daran, dass sie sie sich all die Strapazen hätten ersparen können. Aber noch zum Fluchtzeitpunkt hätten sie nie und nimmer geglaubt, dass die Wende so kurz bevorstand.
Vermögen beschlagnahmt
Zudem war das fast gesamte Vermögen der Gutschs weg, weil vom SED-Staat beschlagnahmt. Vor der Flucht verkaufen ging nicht, denn damit hätte man sich verdächtig gemacht. Und auch ein Begrüßungsgeld wie für nach der Wende in die Bundesrepublik gekommene DDR-Bürger gab es nicht. "Wir haben uns selbst herausgekrabbelt", sagt Dieter Gutsch.
Etwas haben die Gutschs aber zurückbekommen. Es ist ihr reicher Fundus an Bildern aus der DDR-Zeit. Die Staatsdiener haben ihn bei der Beschlagnahmung der Wohnung respektlos in die Tonne geworfen. Ein Nachbar hat sie herausgeholt und sie nach der Wende der Familie Gutsch zurückgegeben.