Das "Paneuropäische Picknick" am 19. August 1989 im ungarischen Sopron mit der Flucht von 600 bis 700 DDR-Bürgern. Die bewegenden Szenen im Prager Botschaftsgarten. Und schließlich der Mauerfall am 9. November 1989: Vor 30 Jahren öffnete sich der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West. Durchzuschlüpfen schafften manche schon vorher – mit waghalsiger Flucht oder einer legalen Ausreise aus der DDR. Als einer der ersten Familien überhaupt gelang dies Rolf und Karla Fritzsche mit ihrer kleinen Tochter Doreen.
Bundesrepublik kaufte tausende DDR-Bürger frei
Seit über 40 Jahren leben der Elektromeister und die studierte Wirtschaftsingenieurin mittlerweile in Würzburg. Die aufwühlenden Monate 1975 und 1976 werden die Fritzsches nie vergessen. Die beiden hatten Mut – und sie hatten Glück, dass alles gut ging. Die westdeutschen Beamten staunten im Mai 1976 am hessischen Grenzbahnhof Bebra jedenfalls ungläubig: Eine junge Familie darf die DDR verlassen?
Bis 1989 kaufte die Bundesrepublik allein 32 000 DDR-Häftlinge frei, die wegen politischer Gründe oder wegen eines Fluchtversuches eingesperrt waren. 3,4 Milliarden D-Mark flossen dafür an Devisen nach Ostberlin. Nach Erhebung von Zeithistoriker Klaus Schröder bezahlte der Westen außerdem für die Ausreisegenehmigungen von 250 000 DDR-Bürgern. Durchaus wahrscheinlich, dass die Fritzsches darunter waren. Einen Beweis dafür haben sie nicht. Wohl aber für ihren damals unbeugsamen Willen, der DDR den Rücken zu kehren.
Es ist eine Magnetbandkassette mit grün-weißem Aufkleber, Ost-Marke ORWO, mit Stempel vom September 1974. Darauf dokumentiert: die Anhörung des Ehepaares durch einen Beamten "der Inneren" - der Inneren Abteilung des Rats des Stadtbezirks Dresden-Ost, aufgenommen in einem Büro im Rathaus Blasewitz. Heimlich, mit einem verstecken Kassettenrekorder in der eigenen Aktentasche. Ein Freund hatte Rolf Fritzsche das Gerät geliehen.
Das Risiko habe er nie gescheut, sagt der heute 72-Jährige: "Ich wollte das aufnehmen, falls sie mich einsperren." Dass dann auch das Tonband entdeckt worden wäre – sei's drum. Ehefrau Karla wusste um das Gerät in der Tasche, "ich hatte panische Angst. Aber meinem Mann konnte ich es nicht ausreden." Und so zeugt die Aufnahme 30 Jahre später noch davon, wie die staatlichen Organe der DDR mit "Abtrünnigen" umgingen – in diesem Fall sachlich, distanziert, aber sehr interessiert an den zurückbleibenden Eltern und Geschwistern. Auch den Fritzsches war klar, wie eng "die Innere" mit der Stasi kooperierte.
Es ist vor allem eine Erhebung von Daten, Namen, Wohn- und Arbeitsorten. Bürokratisch, unspektakulär, in breitem Sächsisch. Dann aber, gefragt nach den Gründen für den Ausreisewunsch, spricht Rolf Fritzsche Klartext. Seine Stimme ist fest. Ein "freier Mann" wolle er sein, sich sein Leben aufbauen. Er bedauert, dass er keine Chance habe, als DDR-Bürger ins westliche Ausland zu reisen, nicht einmal zur Fußball-WM in der Bundesrepublik.
Deutlich wird aus seiner Erklärung, wie eingesperrt sich die Familie fühlt. Und dass sie sich der Folgen bewusst ist: "Ich weiß, wenn ich jetzt den Antrag gestellt habe, dass es für mich dann kein Zurück mehr gibt." Der Entschluss der Fritzsches ist lange gereift.
Fehlgeschlagener Fluchtversuch als 19-Jähriger
Schon als 19-Jähriger hatte Rolf Fritzsche versucht, in den Westen zu fliehen. Gerade hat er seine Lehre abgeschlossen, als er sich mit dem Zug auf den Weg Richtung Schleiz im Thüringer Südosten macht, um dort über die Grenze zu gelangen. Doch Wachmänner im Zug riechen Lunte, Fritzsche türmt, auf einer Landstraße wird er erwischt. Er büßt den Fluchtversuch mit neun Monaten Gefängnis und einer Vorstrafe.
Im heimischen Dresden lernt er seine spätere Frau Karla kennen. Der Gedanke an eine Flucht lässt ihn nicht los. 1972 reisen beide nach Ostberlin. Fritzsches Ziel in der Hannoverschen Straße: die ständige Vertretung der BRD. Im Umkreis der Botschaft tut das Paar so, als würde man sich nicht kennen. Die Ehefrau soll nicht belastet werden. DDR-Polizisten "bewachen" den Zugang. Den erhofften Erfolg haben die Fritzsches nicht: "Wir sollten mit der Ausreise warten, bis meine Frau fertig studiert hat", lautet der Rat der westdeutschen Diplomaten.
Und doch tun sich noch im gleichen Jahr 1972 kleine Türchen Richtung BRD auf: Im Ungarn-Hochzeitsurlaub treffen die beiden eine Reisegruppe aus Würzburg und Umgebung, mit einem Ehepaar aus Waldbrunn freunden sie sich an. Zufällig treffen sie sich zwei Jahre später beim Fußballspiel des FC Bayern in Dresden wieder – der Beginn eines regen Briefaustausches und einer dauerhaften Freundschaft. Es ist ein Fingerzeig, wohin es im Falle einer genehmigten Ausreise gehen sollte. Nach Würzburg. Dort machen die Freunde eine Wohnung ausfindig.
Ehepaar durfte über bevorstehende Ausreise nicht sprechen
Anfang Juni 1975 zieht sich Rolf Fritzsche fesch an, begibt sich unter einem Vorwand zum Dresdner Bahnhof und fährt – diesmal allein – erneut nach Ostberlin in die westdeutsche Vertretung. Dieses Mal sind die Signale positiv, die Ausreise wird unterstützt. Das Ehepaar beantragt sie bei den DDR-Behörden, muss dafür alle Abmeldungen vorlegen: von Gewerkschaftsbund, Parteijugend, Sparkasse, Armee und "Konsum", von den staatlichen Märkten, für die es Wertmarken gibt. Die strenge Auflage: Über die bevorstehende Ausreise dürfen die beiden nicht sprechen. Nicht in der Familie, nicht gegenüber Freunden.
Ausreise in die BRD als Staatenlose
Trotzdem: "Den Eltern haben wir's erzählt", sagt Karla Fritzsche. Sie sitzt mit ihrem Mann Rolf auf dem Wohnzimmersofa in der Würzburger Wohnung und hört zum ersten Mal den geheimen Mitschnitt von 1975: "Ich wollte nicht mehr daran erinnert werden, da kommt so viel hoch." Jetzt kann sie damit umgehen – und über das Sächsisch sogar lachen: "Mensch, Rolf, da hast Du ja noch ganz anders gesprochen."
Als die Ausreise auf den Weg gebracht ist, wird den Fritzsches der DDR-Pass abgenommen und dafür eine "Identitätsbescheinigung" ausgestellt. Sie sind vorübergehend Staatenlose. Anders als Flüchtende dürfen sie ihren kompletten Hausstand in chinesische Teekisten und andere Behältnisse verpacken und verladen lassen. Ein staatlich beauftragter "Packer" notiert haargenau alles, was sie mitnehmen.
Zwei, drei Wochen später holen sie am Würzburger Hauptbahnhof ihre Sachen aus dem Container und ziehen in ihre neue Wohnung. Dazwischen liegt die Reise ihres Lebens, die Reise in ihre Zukunft. Ins berufliche und familiäre Glück. 1984 wird in Würzburg Sohn Marc-Antonio zur Welt kommen. 1989, ein halbes Jahr vor dem Mauerfall, siedeln dann auch die Eltern von Rolf Fritzsche nach Würzburg über.
In Unterfranken kann der Elektromeister verwirklichen, was ihm die DDR verwehrte: seine eigene Existenz aufbauen, mit eigenem Unternehmen und anfänglich 20 Angestellten sein eigener Herr sein. "Das war immer mein Traum", sagt Rolf Fritzsche. "Hier konnte ich ihn leben." Erst 2017 meldete er alters- und krankheitsbedingt die Firma ab.
Bereut hat das Ehepaar die Ausreise 1976 nie. Nur ihre Freundinnen von früher hätten ihr gefehlt, sagt Karla Fritzsche. Heute vergehe kein Tag ohne WhatsApp mit alten Schulfreundinnen von "drüben". Bis zum Mauerfall sei der Kontakt spärlich, in der DDR hatten die wenigsten ein Telefon, Briefe wurden abgefangen. Seit 1989 aber sind die Fritzsches zwei- bis dreimal pro Jahr zu Besuch in Dresden, Karla Fritzsche verpasst kein Klassentreffen der Polytechnischen Oberschule. Die Verbindungen von früher kappen? Das wäre für die 67-Jährige "ganz schlimm" gewesen. "Die Zeit in der DDR ist ein Teil von uns." Freundschaften aus Kindheit und Jugend würden sie tragen.
Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, ist das Ehepaar vor dem Fernseher in der Würzburger Wohnung "glücklich, dass es endlich so weit ist". Noch am nächsten Tag packt Rolf Fritzsche seinen Vater und fährt mit ihm an die Grenze bei Schleiz. Dort stehen DDR-Grenzsoldaten mit Kalaschnikows. "Wir haben sie umarmt", erinnert sich Fritzsche. Wenige Tage später reist er nach Dresden und Berlin. Dass die Mauer irgendwann fallen würde, hatten die Fritzsches immer erwartet, "die DDR ging doch am Stock."
Panische Angst um das eigene Kind
Das war in den 70er Jahren noch anders. Was für die Fritzsches zählte, war die Freiheit. Als sie bei der Ausreise im Mai 1976 im Zug von Dresden nach Bebra sitzen, gibt es einen allerletzten Schreckmoment. "Da sind sie!", rufen die DDR-Bahnpolizisten bei der Kontrolle im Zug. Für Karla Fritzsche sind es dramatische Sekunden, sie klammert ihre Tochter ganz fest an sich - in panischer Angst "dass sie mir kurz vor der Grenze noch mein Kind wegnehmen". Es passiert nicht. Und nachdem sich der Zug vom Umsteigebahnhof Bebra nach Würzburg in Bewegung setzt, spüren die Eheleute nur noch eines: "Grenzenlose Leichtigkeit."