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Niederwerrn
Ein Leben mit MS: Wie Theresa Binder aus Niederwerrn trotz der unheilbaren Erkrankung ihren Alltag meistert
Mit 21 Jahren erfährt Theresa Binder, dass sie an MS leidet. Nicht nur gegen die Krankheit, auch gegen bürokratische Hürden muss sie immer wieder ankämpfen. 
Seit einigen Wochen besitzt Theresa Binder ein elektrisches Therapie-Dreirad. Jetzt kann sie trotz ihrer MS-Erkrankung wieder am sozialen Leben ihrer Familie teilnehmen.  
Foto: Heiko Becker | Seit einigen Wochen besitzt Theresa Binder ein elektrisches Therapie-Dreirad. Jetzt kann sie trotz ihrer MS-Erkrankung wieder am sozialen Leben ihrer Familie teilnehmen.  
Irene Spiegel
 |  aktualisiert: 21.12.2024 02:34 Uhr

Mit Anfang 21 bekommt Theresa Binder die Diagnose: Multiple Sklerose (MS). Ihre Mutter bricht in Tränen aus. Die Tochter sagt: "Zum Glück kein Krebs." Theresa Binder wusste damals noch nicht, was Multiple Sklerose ist. Das war im September 2008.

16 Jahre sind nun um – 16 Jahre, die nicht mehr wie "vorher" oder "früher" sind. Ihren letzten Schub hatte Theresa Binder vor sieben Jahren. Seitdem hat sie eine spastische Lähmung im linken Bein und Zuckungen am linken Auge. Beides beeinträchtigt sie mal mehr oder weniger stark. "Es gibt Tage, da könnte ich nur heulen", sagt die 37-Jährige aus Niederwerrn. Und trotzdem strahlt sie: "Ich habe MS, die wird bleiben, aber das Leben ist trotzdem lebenswert."

Es ist die positive Lebenseinstellung, das Lächeln im Gesicht, das die junge Mutter mit den Pink gefärbten Haaren so sympathisch macht. Der Anfang allerdings war schwer. Theresa Binder war jung und unbeschwert, wollte auf Partys gehen und das Leben genießen.

Mit epileptischen Anfällen fing alles an 

Es fing mit epileptischen Anfällen an. Der Erste kam mit 17 zu Hause, der Zweite mit 19 im Schwimmbad, der Dritte mit 21 im Wirtschaftsunterricht an der Berufsoberschule in Würzburg, wo Theresa Binder nach ihrer Ausbildung zur Kinderpflegerin ihr Fachabitur nachholte. An der Uniklinik erkannten die Neurologen, dass MS der Auslöser für die epileptischen Anfälle war.   

Immer ein Lächeln im Gesicht: Theresa Binder blickt trotz ihrer MS-Erkrankung positiv nach vorne.
Foto: Heiko Becker | Immer ein Lächeln im Gesicht: Theresa Binder blickt trotz ihrer MS-Erkrankung positiv nach vorne.

"Ich wusste nicht, was das heißt", erzählt Theresa Binder. Nach der Diagnose besuchte sie deshalb einen Informationsabend über Multiple Sklerose. Daran erinnert sie sich eher ungern. Die Folgen der Krankheit wurden ihr platt um die Ohren gehauen: "Ihr landet alle im Rollstuhl", habe die Referentin gesagt. Danach strich Theresa Binder das Wort "MS" aus ihrem Wortschatz. Niemand im Familien- und Freundeskreis durfte sie darauf ansprechen. "Ich war noch nicht bereit, mich damit auseinanderzusetzen." Zu groß war die Angst, nicht mehr laufen zu können, nicht mehr alleine essen zu können, ein Pflegefall zu werden.

Theresa Binder hatte damals noch keine bleibenden Ausfälle. Die Beschwerden während eines Schubes entwickelten sich innerhalb von Stunden oder Tagen wieder zurück. Sie machte nach dem Fachabitur noch eine zweite Ausbildung zur Hörakustikerin, reiste, feierte und wollte nicht an MS denken. "Irgendwann hat es dann Klick gemacht", erinnert sich die 37-Jährige. Sie habe die Krankheit akzeptieren können. Seitdem geht sie offen damit um. Ihrem Mann Manuel habe sie gleich beim Kennenlernen gesagt: "Ich hab' MS." Seine Antwort: "Na und." Auch für ihre beiden Kinder ist die Krankheit der Mutter nichts Außergewöhnliches. Die achtjährige Marie und der sechsjährige Paul schieben sogar die Mama im Rollstuhl, wenn sie keine Kraft mehr zum Laufen hat.

Apropos Rollstuhl: Theresa Binder besitzt einen sogenannten "Rollz Motion", eine Kombination aus Rollator und Rollstuhl. Der Vorteil: Sie kann so lange gehen, wie sie Kraft hat, und sich dann schieben lassen, um wieder Kraft zu schöpfen. Auf Kassenrezept gibt es den Rollator-Rollstuhl natürlich nicht, genauso wenig wie das Therapie-Dreirad, das sich die 37-Jährige jetzt zugelegt hat. Wegen der Krankheit ist ihr Gleichgewichtssinn stark geschwächt, weshalb sie mit einem normalen Fahrrad nicht fahren kann. Auch Auto fahren ist nicht mehr möglich. Für Einkäufe, Arzt- oder Therapiebesuche ist die 37-Jährige deshalb auf externe Hilfe angewiesen.

Enttäuschung, als die Krankenkasse einen Zuschuss zum Therapie-Dreirad ablehnt

Auf der Reha vor zwei Jahren saß sie zum ersten Mal auf einem Therapie-Dreirad und war begeistert. Die Ärzte hätten ihr das Radfahren dringend empfohlen. Durch die Bewegung wird die Muskelkraft trainiert und der Muskelabbau reduziert. Die Enttäuschung war groß, als ihre Krankenkasse einen Zuschuss für das 10.000 Euro teure Elektro-Dreirad ablehnte. Mit der Begründung: die Versorgung mit Therapierädern sei nur für Kinder mit neuromuskulären Erkrankungen oder für in der Mobilität eingeschränkte Jugendliche vorgesehen. Behinderten Erwachsenen das Fahrradfahren zu ermöglichen, falle hingegen nicht in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.   

Die Familie hat nun einen Kredit aufgenommen, um das Dreirad zu finanzieren. Theresa Binder fährt damit zum Einkaufen und macht Fahrradausflüge mit der Familie. "Es ist so ein tolles Gefühl, unabhängig zu sein", sagt die 37-Jährige, die niemanden zur Last fallen möchte und sich freut, endlich wieder am sozialen Leben ihrer Familie teilhaben zu können. 

Politikerin Malu Dreyer als großes Vorbild

Ein großes Vorbild ist für die 37-Jährige die ehemalige Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, bei der vor 30 Jahren MS diagnostiziert wurde. Die SPD-Politikerin ging offen mit ihrer Krankheit um. Im Juni dieses Jahres ist sie von ihrem Amt zurückgetreten.

Multiple Sklerose sei häufig herausfordernd, sagt Theresa Binder. Ihre Kreativität helfe ihr, einen Ausgleich zu schaffen. Die 37-Jährige liest und bastelt gerne. "In dieser Zeit bin ich frei von Gedanken." Trotz der stetigen Ungewissheit, ob sich die gesundheitliche Situation verändert, hat Theresa Binder keine Zukunftsängste: "Ich war schon immer ein positiver Mensch, ich schaue selbstbewusst nach vorne."

Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) und gehört zu den sogenannten Autoimmunerkrankungen. Es ist eine Krankheit, bei der das Immunsystem die Nervenstränge angreift. Bei einem Schub gelangen falsch programmierte Immunzellen ins zentrale Nervensystem und können dort eine Entzündungsreaktion auslösen. Dabei werden die Umhüllungsschichten der Nerven angegriffen, die Nerven können die Befehle dann nicht mehr so gut weiterleiten. Die daraus folgenden Symptome können ganz unterschiedlich ausfallen. Sehr häufig sind Seh-, Gang- und Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Taubheitsgefühle und chronische Erschöpfung. Die Krankheit ist bis heute nicht heilbar, ihre Ursache bisher unbekannt. MS ist nicht tödlich und wird nicht direkt vererbt.
Quelle: is
 
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