
Welches Urteil ist angemessen für ein Elternpaar, das keine medizinische Hilfe in Anspruch nahm, obwohl seine 16 -jährige, stark abgemagerte Tochter offenbar in einem erkennbar lebensbedrohlichen Zustand war? Im Fall einer 48 Jahre alten Frau und ihres 51 Jahre alten Ehemanns aus dem Landkreis Schweinfurt ist die 1. große Strafkammer des Landgerichts Schweinfurt am Dienstagnachmittag zu einer Entscheidung gekommen.
Nach drei Verhandlungstagen sprach die Kammer unter der Vorsitzenden Richterin Claudia Guba die beiden Angeklagten schuldig der fahrlässigen Tötung. Von der Verhängung einer Strafe sah das Gericht jedoch ab. Die Kammer sei überzeugt, dass die Eltern "überfordert" waren, sagte Guba: "Dass sie sich an den Gedanken geklammert haben, dass alles gut werden und gut ausgehen würde – was nicht der Fall war."
"Falsch verhalten" – aber Gericht sieht keinen Tötungsvorsatz
Die Eltern hätten die Situation völlig falsch eingeschätzt. "Es ist aus unserer Sicht offensichtlich, dass sich die Angeklagten falsch verhalten haben", so die Vorsitzende Richterin. Zwar habe auch ein rechtsmedizinisches Gutachten nicht abschließend klären können, bis wann der Tod des Mädchens noch hätte verhindert werden können. Ärztliche Hilfe sei für die zuletzt bettlägerige und bis auf 19 Kilogramm abgemagerte 16-Jährige aus Sicht der Kammer aber in jedem Fall dringend notwendig gewesen.
Warum die Eltern sich nicht über den Willen des Mädchens hinweggesetzt und es zwangsweise in ein Krankenhaus hatten einliefern lassen, sei aus Sicht Außenstehender "völlig unverständlich", machte Claudia Guba bei der Urteilsbegründung klar. Damit stellte sie zugleich die zentrale Frage dieses Prozesses in den Raum: "Warum haben sie nicht das getan, was für alle Außenstehenden sonnenklar gewesen wäre?"
Nach Ansicht der Kammer seien die Angeklagten "keine Eltern, die den Tod ihres Kindes wollten, diesen billigend in Kauf nahmen oder sich nicht kümmern", so die Vorsitzende. Das hätten auch Chatnachrichten zwischen den Eltern und zwischen Mutter und Tochter gezeigt. Diese zeugten durchaus von "Unterstützung und Zuwendung", sagte Guba. Einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz habe die Kammer damit nicht erkennen können.
Gericht macht von "absoluter Ausnahmevorschrift" Gebrauch
Maßgeblich für das Urteil seien das Schuldeingeständnis der Eltern und die massiven Folgen, mit denen sie nun umgehen müssten. "Beide Angeklagten haben ihr Kind verloren und das müssen sie für den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen", sagte Guba. Eine weitere Strafe sehe das Gericht deshalb nicht als zielführend an.
Damit macht die Kammer von Paragraf 60 des Strafgesetzbuches Gebrauch: "Das Gericht sieht von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre", zitierte Guba. Eine "absolute Ausnahmevorschrift, eine Art Gnadenvorschrift", die weder sie noch ihre beiden Beisitzer in ihrer bisherigen Laufbahn je aktiv angewandt hätten. Im Fall des toten Mädchens halte die Kammer dies jedoch für angemessen.

Die Vorsitzende stellte aber auch klar: "Das hier ist kein Freispruch." Die Eltern seien schuldig der fahrlässigen Tötung und müssen die Kosten des Verfahrens tragen.
Mit dem Verzicht auf Verhängung einer Strafe folgte die Kammer der Forderung der Verteidigung. Auch die war der Überzeugung, dass die "tragischen Gesamtumstände" und die massiven Folgen für die Familie diese Entscheidung rechtfertigten, sagte Anwalt Norman Jacob Junior.
Die Angeklagten hätten die Situation falsch eingeschätzt und ihre Schuld eingestanden, meinte auch Verteidiger Norman Jacob Senior. Die Frage sei jedoch: "Wie vorwerfbar ist so eine Fehleinschätzung?"
Staatsanwaltschaft hatte zwei Jahre auf Bewährung gefordert
Die Staatsanwaltschaft hatte für Mutter wie Vater jeweils eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren gefordert. Die Eltern die lebensbedrohliche Situation ihrer Tochter erkennen und handeln müssen, sagte Staatsanwalt Markus Küstner: "In so einer Situation kann kein normal denkender Mensch in Erwägung ziehen, dass diese ohne Hilfe von außen besser wird." Dennoch sehe auch er die besonderen Umstände der Tat. Das Mädchen sei nicht "Opfer einer böswilligen Attacke" geworden. Ihr Tod sei ein "schleichender Prozess" gewesen.
In ihren letzten Worten vor der Urteilsverkündung hatten sich die Angeklagten noch einmal emotional an das Gericht gewandt. "Ich leide jeden Tag an der Schuld, die ich durch den Tod unserer Tochter auf mich geladen habe. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen", sagte der Vater mit brechender Stimme. "Die größte Strafe haben wir schon", sagte die Mutter. Ihre Tochter sei nicht mehr da.
§ 60 StGB ist keinesfalls eine „absolute Ausnahmevorschrift“, sie wird m.E. vor allem deshalb selten bis nie angewandt, weil es bei der fachfremden Öffentlichkeit - wie vermutlich in Kürze auch bei diesem Urteil zu bestaunen - keine Akzeptanz hat, wenn gegen „Straftäter“ Milde oder gar „Gnade“ gezeigt wird.
Ich bin der Meinung, diese Vorschrift sollte sehr viel mehr angewandt werden und auch bei Juristen und insbesondere auch Richtern endlich mehr ins Bewusstsein gerückt werden.
Einer fortschrittlichen freiheitlich-demokratischen Rechtspflege stünde das gut zu Gesicht; Prävention und Strafverfolgung ist mehr als die beliebte aber oft blinde Strafwut und das „ganze Härte“-Blabla, von dem viele immer noch meinen, es wirke „abschreckend“.
Abschreckend ist vielmehr, sich einmal die nichtjuristischen Tatfolgen zu vergegenwärtigen, wie hier geschehen.