
Ein "lauter Schrei, gefolgt von einem Weinen". Rettungskräfte, die versuchen, seine Schwester wiederzubeleben. Und letztlich aufgeben müssen. Es seien nur wenige Bilder, die sich aus jener Nacht im Dezember 2022 in sein Gedächtnis gegraben hätten, sagt der 22-Jährige vor dem Landgericht Schweinfurt. Aus jener Nacht, in der seine damals 16 Jahre alte Schwester starb.
Das meiste aus der Zeit kurz vor und nach dem Vorfall sei nach wie vor "dunkel und verschwommen", gibt der Bruder an diesem Freitag vor dem Landgericht Schweinfurt. So, als versuche sein Körper "das zu verdrängen". Dann bricht seine Stimme. Die Erinnerung an den Tod seiner Schwester nimmt den 22-Jährigen sichtlich mit.
So geht es vielen Prozessbeteiligten im Sitzungssaal. Kurze Momente der Stille, wenn Angehörige der Verstorbenen um Fassung ringen. Es ist der zweite Tag in der Verhandlung gegen ein Elternpaar aus dem Landkreis Schweinfurt, dessen Tochter kurz vor Weihnachten 2022 in ihrer Obhut gestorben war. Gerade einmal 19 Kilogramm wog die 16-Jährige zu diesem Zeitpunkt. Sie war stark mangelernährt, geht aus dem Obduktionsbericht hervor.
Vater vor Gericht: "Ich hatte Vertrauen in Gott, dass alles wieder gut wird"
Bereits am ersten Verhandlungstag hatten die Eltern eingeräumt, dass sie die Verantwortung tragen. Den Vorwurf der Staatsanwaltschaft, sie hätten den Tod des Mädchens billigend in Kauf genommen, weisen Mutter und Vater aber auch am zweiten Prozesstag von sich. Sie hätten den Ernst der Lage falsch eingeschätzt. "Ich hatte Vertrauen in Gott, dass alles wieder gut wird", wiederholt der 51-jährige Vater vor Gericht.
Hätte das Umfeld den Ernst der Lage erkennen müssen? Auf die Frage der Vorsitzenden Richterin Claudia Guba, ob ihm die extrem dünne Statur seiner Schwester nie aufgefallen sei, gibt der ältere Bruder der Verstorbenen an: Seine Schwester sei schon immer "sehr zierlich" gewesen. Auffälligkeiten im Essverhalten habe er bei der 16-Jährigen nie bemerkt. Laut Anklageschrift soll das Mädchen jedoch deutliche Symptome einer Essstörung gezeigt haben.
Auf die Frage der Vorsitzenden, ob er sich jemals Sorgen um seine Schwester gemacht habe, schweigt der 22-Jährige lange. Dann sagt er: "Ja, natürlich hat man sich mal Sorgen gemacht, als das mit Corona und dem Magen-Darm-Infekt war." Über eine Essstörung sagt er nichts.
Rechtsmedizinisches Gutachten bringt Klarheit über Todesursache
Klarheit darüber, was letztlich zum Tod der 16-Jährigen führte, soll an diesem Tag ein rechtsmedizinisches Gutachten bringen. "Am Auffälligsten war, dass keinerlei Fettgewebe mehr vorhanden war. Weder in der Unterhaut, noch an den Organen", sagt Gutachter Ulrich Preiß, Rechtsmediziner am Uniklinikum Würzburg.
Der Körper des Mädchens sei aufgrund von Unterernährung völlig geschwächt gewesen. Eine vorausgegangene Corona-Infektion und der Magen-Darm-Infekt, an dem die 16-Jährige erkrankt gewesen sein soll, seien dann vermutlich zu viel gewesen für den geschwächten Körper. "Sie hatte keinerlei Reserven. Wenn in diesem Zustand ein Infekt hinzukommt, hat das Immunsystem dem nichts entgegenzusetzen", so der Mediziner. Seine Einschätzung: Das Mädchen starb an "Organversagen im Rahmen einer Abmagerung" und einer Essstörung.
Rechtsmediziner: "So etwas passiert nicht von heute auf morgen"
Eine der zentralen Fragen des Prozesses könne jedoch auch er nicht beantworten, sagt Preiß. Bis zu welchem Zeitpunkt hätten ein Eingreifen der Eltern und ärztliche Hilfe, notfalls auch gegen den Willen des Mädchens, dessen Leben womöglich retten können? Bis ein Körper derart abmagere, sei es "ein langer Prozess", der auch für Laien zu erkennen sei, erklärt der Rechtsmediziner: "Es war ja kaum noch Muskelmasse vorhanden. So etwas passiert nicht von heute auf morgen."
Der Prozess wird am Dienstag, 26. November, fortgesetzt. Dann werden die Plädoyers erwartet, eventuell fällt auch das Urteil.