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Schweinfurt
Das Gartenstadt-Gefühl
Daniela Kühnel, Kuratorin der Ausstellung „Made in SW“.
Foto: Fotos (3): Oliver Schikora | Daniela Kühnel, Kuratorin der Ausstellung „Made in SW“.
Oliver Schikora
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:25 Uhr

Wilfried Vonhausen kann sich noch erinnern, als sei es gestern gewesen. Wie er 1953 mit seinen Eltern von Hellingen nach Königsberg lief, dort ins „Hofheimerle“ stieg, den Zug, der sie von Königsberg nach Haßfurt brachte. Von dort ging es nach Schweinfurt, in die Gartenstadt.

Wilfried Vonhausen im Jahr 1953.
Foto: Stadtarchiv | Wilfried Vonhausen im Jahr 1953.

Die Familie Kupfer, die damaligen Pächter der Gartenstadt-Wirtschaft, waren Freunde seiner Eltern und kamen aus Hellingen. Eines schönen Sommertages machte man also einen Ausflug in die große Stadt und während sich die Erwachsenen unterhielten, war der damals fünf Jahre alte Wilfried abenteuerlustig wie eh und je und erspähte auf einem Weg an der Ecke Bauvereinsstraße/Josef-Säckler-Straße vor dem Haus, in dem damals die Bauvereins-Geschäftsstelle war, ein Motorrad. „Das kannte ich von zu Hause auf dem Land nicht, es war niemand zu sehen, da bin ich halt drauf geklettert“, erzählt er mit einem Grinsen. Seine Mutter hat ihn natürlich doch gesehen und lief ihm schon schimpfend entgegen, als gegenüber eine Tür aufging und ein Mann rauskam: „Lassen Sie ihn sitzen, ich will schnell ein Bild machen.“ Ein Klick, das Bild gemacht, die Mutter versöhnt.

„Lassen Sie ihn sitzen, ich will schnell ein Bild machen.“
Die Reaktion eines Anwohners 1953, als der damals 5 Jahre alte Wilfried Vonhausen sich ungefragt auf ein Motorrad in der Gartenstadt setzte.

Es dauerte sage und schreibe 64 Jahre, bis Wilfried Vonhausen das Bild wieder sah und Bauklötze staunte. 1956 zog seine Familie in die Wälzlagerstadt, Vonhausen lebt auch heute noch im Musikerviertel. Er kannte die Fotografie, doch im Laufe der Jahre ging sie verloren. Und als er kürzlich bei der Eröffnung der Ausstellung „Made in SW – Schweinfurt und seine Gartenstadt“ auch den Rundweg durch die Gartenstadt lief, da traute er seinen Augen kaum. „Das bin doch ich da auf dem Bild.“

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Lebendige Zeitgeschichte

Es sind diese Geschichten, die eine schon sehr gute Ausstellung über Zeitgeschichte zu einer besonders guten macht. Wenn es nicht nur um eine Ansammlung von musealen Klugheiten geht, sondern darum, das Leben der Menschen vor Ort so zu zeigen, wie es war und wie sich die Betroffenen daran erinnern.

Daniela Kühnel freut sich über solche Geschichten. Die Kunsthistorikerin hat auch diese „Made in SW“ wieder gestaltet und schon bei der Ausstellungs-Eröffnung im Bunker an der blauen Leite im Mai erlebt, wie die Bürger begeistert die Bilder von Umzügen, Einweihungen, alten Häusern oder Festen anschauten. Und mehr als einmal war zu hören: „Da war ich auch dabei.“ Man sollte meinen, dass der Rundgang entlang der zehn ansprechenden Schautafeln durch die Gartenstadt vom Bunker mit der „Made in SW“ bis zur Bauvereins-Ausstellung in der Georg-Groha-Straße 25 nur etwas für echte Gartenstädter ist. Ein Trugschluss.

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Erstens ist die Gartenstadt-Bewegung vom Beginn des 20. Jahrhunderts ein europaweites Phänomen, dessen Wurzeln zu erkunden lohnenswerte Rückschlüsse auf das Leben der Menschen damals zulässt. Und zweitens gibt es so viele amüsante Anekdoten bei den Führungen, dass man sich diesen Rundgang nicht entgehen lassen sollte.

Mit Bändern an den Rädern

Zum Beispiel die Geschichten über das Vereinsheim des Rad- und Kraftfahrervereins Solidarität Schweinfurt in der Galgenleite 105. Als die Vereinsmitglieder das 1957/58 bauten, war der Verein immerhin schon 53 Jahre alt und blickte auf eine stolze Tradition zurück. Doch die Radfahrer und das Arbeiterviertel, das passte wie die Faust aufs Auge. „Die Solidarität war eine ebenso deutschlandweite Bewegung wie die Gartenstadt“, erzählt Daniela Kühnel, „es war für die Arbeiter ein Symbol der Freiheit und Freizeit, nicht nur Maschinen und Arbeiten.“ Und so erinnert man sich noch heute begeistert an die gemeinsamen Ausfahrten mit dem Rad am Wochenende, bei denen natürlich auch die Frauen dabei waren und die Räder mit bunten Bändern geschmückt waren. Dieses Gemeinschaftsgefühl haben sich die Gartenstädter in ihren Vereinen und Zusammenleben übrigens bis heute bewahrt.

Wilfried Vonhausen mit 69 vor dem Haus in der Gartenstadt, wo er  im Jahr 1953 als fünf Jahre alter Junge auf einem Motorrad saß.
Foto: Oliver Schikora | Wilfried Vonhausen mit 69 vor dem Haus in der Gartenstadt, wo er im Jahr 1953 als fünf Jahre alter Junge auf einem Motorrad saß.

Die Ausstellung, sagen Leute, die dabei waren, bewirkte auch, dass beim Umzug während der Kirchweih viel mehr Leute als sonst teilnahmen – weil es ihnen wichtig war, ihre Verbundenheit zu zeigen.

A propos Verbundenheit. Beim Bauverein ist die ebenso ausgeprägt, was man an den vielen freiwilligen Helfern in der Ausstellung sieht. Die Genossenschaft ist die Wurzel der Gartenstadt, 1917 gegründet, ab den 1920er Jahren entwickelte sie den damals völlig neuen Stadtteil für die unter unvorstellbaren Bedingungen in der Stadt hausenden Industriearbeiter. Die Pläne für die Gartenstadt zeichnete Architekt Theodor Fischer, die Ausführung übernahm sein Schweinfurter Kollege Rudolf Metzger. Die ersten 36 Einfamilienhäuser entstanden unter anderem in der Georg-Groha-Straße – rund 90 Quadratmeter Wohnraum und immer ein kleiner Nutzgarten und ein Stall für Kaninchen oder Hühner mit dabei.

Der Garten erstrahlt in neuem Glanz

In Haus Nummer 25, das von 1920 bis 1995 mehrere Generationen der Familie Werberich bewohnten, ist die Ausstellung. Ein Kleinod – innen und außen. Gerade jetzt erblüht der von Helmut Kierer angelegte Gemüsegarten. Im Schatten des von tausenden Früchten behangenen Mirabellen-Baumes gibt es Kartoffeln, Zwiebeln, Kohl, Kohlrabi, Mangold oder Erdbeeren und noch viel mehr.

Etwas versteckt an der Treppe ist Daniela Kühnels „Lieblingsort“: der kleine Stall, inklusive zweier putziger Kaninchen. Sie gehören Rainer Steinmüller und der kommt seit Mai jeden Tag abends vorbei und füttert seine Tiere. Ein echter Gartenstädtler eben.

Mit Liebe zum Detail: Der neu angelegte Gemüsegarten in der Georg-Groha-Straße 25.
Foto: Oliver Schikora | Mit Liebe zum Detail: Der neu angelegte Gemüsegarten in der Georg-Groha-Straße 25.

Nur ein paar Schritte weiter vom Bauvereinshaus schließt sich der Kreis mit Wilfried Vonhausens Geschichte. Das Gasthaus in der Gartenstadtstraße, 1927 vom Bauverein mit einer Metzgerei zur Versorgung der Bevölkerung gebaut, heute die Heimat des „Löwenzahn“-Restaurants. Ein Ort der Erinnerung, „hier können wirklich alle, die hier aufgewachsen sind, etwas erzählen“, sagt Daniela Kühnel, „Hochzeiten, Geburtstage, Kommunionen, Konfirmationen, auch Trauerfeiern.“ Oder Besuche von Freunden, deren Kinder ausbüchsen und sich auf Motorräder setzen.

Made in SW – Schweinfurt und seine Gartenstadt

Die Ausstellung „Made in SW XVI – Schweinfurt und seine Gartenstadt“ im Bunker an der Blauen Leite kann bis 10. September besichtigt werden, die Ausstellung „100 Jahre Bauverein“ in der Georg-Groha-Straße 25 ist bis 30. September geöffnet. Bei beiden Ausstellungen ist der Eintritt frei.

Bis 10. September sind auch Führungen entlang der zehn besonderen Stationen in der Gartenstadt sowie Kombi-Führungen in der Ausstellung im Bunker, der Gartenstadtrunde und im Bauvereins-Haus möglich. Am Sonntag, 13. August, und Sonntag, 10. September, gibt es jeweils von 15 bis 16 Uhr eine öffentliche Führung im Bunker.

Informationen zu den Führungen und Reservierungen beim Museumsservice MuSe telefonisch unter (0 97 21) 51 47 44.

 
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