Das Wetter kann man nicht mehr ablesen an den Kühltürmen. Überraschend simpel ist die auffälligste Änderung im Alltag der Grafenrheinfelder Bürger und ihrer Nachbargemeinden: Am 27. Juni 2015, Punkt 23.59 Uhr, ist das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld (KKG) nach 33 Jahren Betrieb abgeschaltet worden.
Egal, wen die Frage erreicht, jeder, der im Sichtkreis des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld (KKG) wohnt, erzählt das Gleiche: Der aufsteigende Dampf aus den beiden Kühltürmen, kilometerweit zu erkennen, zeigte Regen oder eine Schönwetterperiode an – je nachdem, ob er steil in den Himmel oder durch den Luftdruck nach unten gedrückt wurde. „Nach Kachelmann war das das Beste“, sagt etwa Robert Warmuth.
Sein Haus steht seit 2006 am Rande von Röthlein. Von der Terrasse hat der 60-Jährige einen 180-Grad-Blick auf die Dimensionen der bundesdeutschen Energiewende: vom Bayerischen Asphalt Mischwerk (BAM) im Osten, über zahlreiche Strommasten und Windräder am Horizont bis zu, seit dem Frühling versteckt hinter Apfelbäumen, den beiden Kühltürmen des KKG im Westen.
Auch Kolonat Hetterich, fast der Letzte in der Garstadter Dorfstraße, setzt inzwischen auf andere Wettersignale. Der Bergrheinfelder Ortsteil ist mit rund 600 Metern Luftlinie der nächste zum Kernkraftwerk. Vor Hetterichs Haus flattert die Deutschlandflagge. Außerhalb der Fußball-Europameisterschaft hängt dort die Unterfrankenflagge, betont er. Statt der Dampfwolken zeigt sie nun die Windrichtung an. Ihre Terrassen haben viele Häuser in der Dorfstraße in westlicher Richtung. Im Osten wäre der Blick frei auf das KKG, nur ein paar Felder, der Main und das Garstadter Holz dazwischen.
Fotos vom Kraftwerk hat fast jeder Anwohner in seinem Fotoalbum – eines vor dunklem Gewitterhimmel, eines im Abendrot. Ein reizvolles Motiv. Vergangenes Jahr hat Hetterichs Tochter geheiratet, besonders schön blühte das Mohnblumenfeld am Haus. „Wir haben schöne Bilder gemacht“, erzählt er. Das Brautpaar in der blutroten Blumenwiese. Und im Hintergrund: das KKG.
Was sich sonst noch geändert hat im vergangenen Jahr? „Die Radfahrer halten an und fragen nach dem KKG“, erzählt Hetterich. Durch Garstadt verläuft ein beliebter Fahrradweg. Viele erkundigen sich, ob das Kernkraftwerk noch in Betrieb ist. Man kommt ins Gespräch. Ist sein Sicherheitsgefühl seit der Abschaltung gestiegen? „Null!“, sagt Hetterich. Außerdem sei der Müll ja weiterhin dort drüben gelagert. Die nächsten zehn Jahre wird sich daran sicher nichts ändern.
Viele jüngere Anwohner kennen kein Leben ohne das KKG am Horizont. Susanne Braun ist in Oberndorf aufgewachsen und hat nach Garstadt geheiratet. Sie ist zwiegespalten, wenn es um das Thema geht: „Ich verstehe den deutschen Alleingang nicht“, sagt sie. In anderen europäischen Ländern floriert die Kernkraft mehr denn je. „Wenn, dann hätte man den Ausstieg weltweit machen müssen.“ Mit Baubeginn 1974 wuchs das Kernkraftwerk mit jedem Meter in den Alltag der Bewohner. „80 Zentimeter pro Tag“, erinnert sich Kolonat Hetterich.
Viele Gemeinden im Radius um das KKG wären im Falle eines GAUs unmittelbar betroffen gewesen. Risiken zur erhöhten Anfälligkeit für Krebs konnte niemand wissenschaftlich nachweisen. Mancher Arzt von außerhalb soll trotzdem von Röthlein als dem „verseuchten Dorf“ gesprochen haben.
Finanziell profitiert hat über die Jahre in erster Linie die Gemeinde Grafenrheinfeld durch die Gewerbesteuer, die sie einnahm. Schon seit 2012 zahlt E.ON keine mehr. Entsprechend knapper wird das Rücklagenpolster der Kommune. Sparen heißt es seither.
An der Eisdiele Endres in der Grafenrheinfelder Hauptstraße kauft eine junge Mutter ein Eis: an der Hand eine Tochter im Kindergartenalter, in der Brusttasche ein Baby. Sie ärgert sich, dass die Gemeinde als Erstes an den sozialen Vergünstigungen kürzt: Grafenrheinfeld strich 2013 das Begrüßungsgeld für Neugeborene, außerdem steigen seitdem sukzessive die Gebühren für den Kindergarten. Das KKG hatte auch manche Vorteile.
Robert Warmuth erinnert sich auf seiner Terrasse an die „Goldgräberstimmung“, die Ende der 1970er Jahre in Röthlein geherrscht habe. In der Gaststätte seiner Eltern hätten viele Monteure, Ingenieure und Rohbauer gegessen und geschlafen. Die ganze Region, die Vereinskultur im Umkreis, das soziale Gefüge habe durch das KKG bis heute profitiert. Sichere Arbeitsplätze, bezahlbarer Strom und eine professionelle und eingespielte Belegschaft. Es gibt Dinge, die Warmuth mehr ins Grübeln bringen, wenn er an die Zukunft seiner drei Enkelkinder denkt: „Es gibt anderes, was mich beunruhigt.“ Etwa die Fischerseen in unmittelbarer Nähe des BAM-Werks oder das Gefahrstofflager der Firma Schäflein.
Wie er sich die Aussicht vom Liegestuhl auf seiner Terrasse in 15 Jahren vorstellt? Jedenfalls nicht zwangsläufig mit grüner Wiese, die Varianten könnten vielfältiger sein. Kürzlich war Warmuth in Singapur: Da hat er 27 Euro für den Aufzug bezahlt, um auf das Dach eines dreibeinigen Wolkenkratzers zu fahren.„Und das Dach war ein gigantisches Surfbrett.“