Die ersten Freiwilligen stehen Punkt 14 Uhr vor der medizinischen Ambulanz im unterfränkischen Ankerzentrum bei Geldersheim (Lkrs. Schweinfurt). Nach und nach sammeln sich immer mehr Menschen an. Sie wollen ihr Blut abgeben für eine Antikörperstudie zum Sars-CoV-2-Virus, die das Universitätsklinikum Fulda in Zusammenarbeit mit dem Schweinfurter St.-Josef-Krankenhaus am Freitag in der Flüchtlingsunterkunft gestartet hat.
Wie viele der 580 Bewohner haben sich schon mit dem Coronavirus infiziert und haben Antikörper gebildet? Wie wirksam sind diese Antikörper? Wie lange bleiben sie aktiv? Auf diese Fragen erhoffen sich die Fuldaer Wissenschaftler und Schweinfurter Ärzte Antworten. Das Ankerzentrum ist ein wertvolles Forschungsobjekt, weil die Studie mit einer Gruppe von Menschen erfolgt, die auf engem Raum zusammenleben und die sich in den vergangenen Wochen nicht frei bewegen konnten. Das Ankerzentrum stand seit Ende März nach Bekanntwerden der ersten von bislang 139 Coronavirus-Infektionen knapp neun Wochen lang unter Quarantäne. Die Ansteckungsgefahr in der Einrichtung war deshalb sehr hoch.
"Für uns ist das eine Idealsituation", sagt Professor Dr. Peter M. Kern, Immunologe am Universitätsklinikum Fulda und wissenschaftlicher Leiter dieser Antikörperstudie. Denn bei Menschen in einem abgeschlossenen Beobachtungssystem könne man die Reaktion des Immunsystems auf das Coronavirus, das von Mensch zu Mensch übertragen wird und eine entsprechende Kontaktnähe braucht, viel besser studieren als bei einer sich frei bewegenden Bevölkerung.
Ergebnisse der Studie gehen auch ans Robert Koch-Institut
Bereits am Donnerstag erfolgten ersten Blutentnahmen bei den Mitarbeitern der Ankereinrichtung. Mehr als die Hälfte der 220 Beschäftigten war schon vorstellig. Die Teilnahme an der Studie ist freiwillig, auch für die Bewohner. Dr. Özlem Anvari, die Leiterin der medizinischen Ambulanz, nimmt gemeinsam mit zwei weiteren Ärzten vom Josef-Krankenhaus und sechs Arzthelferinnen den Probanden das Blut ab.
Es ist nur ein kleiner Pieks, wissenschaftlich ist er aber von großer Bedeutung. Denn es gibt bislang sehr wenige Daten und kaum publizierte Studien zur CoV-2-Antikörperprävalenz, also wie viele Menschen einer Bevölkerungsgruppe die Infektion durchgemacht haben. "Mit dieser Untersuchung können wir nun in einer frühen Phase Antworten erzeugen", ist sich Kern sicher. Die Studie ist beim Robert Koch-Institut gelistet, die Ergebnisse werden publiziert. "Wir machen das ja für die gesamte Menschheit."
Bei der Studie werden zwei verschiedene Testverfahren angewandt: der Schnelltest mit dem Kapillarblut aus dem Finger und der herkömmliche Bluttest über die Vene. Die Ergebnisse werden miteinander verglichen, damit in Zukunft vielleicht schneller getestet werden kann. Bei einer jungen Somalierin funktioniert erst einmal keines der beiden Verfahren. Ihre Hände sind zu kalt, es fließt kein Blut. Erst beim dritten Versuch klappt es.
Ampulle und Kapillarblut-Testkärtchen erhalten eine Nummer, damit sie anonymisiert im Labor in Fulda untersucht werden können. Auf den Namen des Spenders haben nur die Mediziner der Anker-Ambulanz Zugriff.
Die Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Fulda kam über private Kontakte von Dr. Anvari zustande. "Wir hatten schon länger die Idee, im Ankerzentrum eine Antikörperstudie durchzuführen, weil wir eine relativ hohe Dunkelziffer an Infektionen vermutet haben." Im Ankerzentrum war von Anfang sehr breit getestet worden. "20 Prozent unserer Tests waren positiv, aber Dreiviertel dieser Personen hatten überhaupt keine Symptome." Das legte für die Ärztin den Schluss nahe, dass ein relevanter Anteil an Infektionen gar nicht entdeckt wurde, weil die Betroffenen die Krankheit nicht bemerkt hatten.
Bei der Regierung von Unterfranken, der Betreiberin des Ankerzentrums, stieß die Ärztin mit ihrem Vorhaben auf offene Ohren. Grünes Licht für die Studie gab dann die Staatsregierung in München. Finanziert wird das Projekt von der Kongregation der Erlöserschwestern Würzburg, die über ihr Schweinfurter St.-Josef-Krankenhaus die Organisation vor Ort stemmen, vom Uniklinikum Fulda, das die wissenschaftlichen Untersuchungen durchführt, und von der Firma Euroimmun, die das Testmaterial zur Verfügung stellt.
"Wir haben hier die wunderbare Situation, dass wir eine Studie machen können, von der gleich drei verschiedene Ebenen profitieren", sagt Kern. Erstens die unmittelbar Betroffenen, die durch die Untersuchung wissen, ob sie Antikörper in sich tragen. Sollte es nämlich noch einmal zu einer Quarantäne der Ankereinrichtung kommen, wären diese Personen ausgenommen. Auch für die Verwaltung des Ankerzentrums sind die Ergebnisse für die Planung und Logistik von Bedeutung. "Und drittens profitieren wir alle davon, weil wir immer noch nicht sagen können, ob wir 200 000 oder zwei Millionen oder vier Millionen still Infizierte in Deutschland haben."
Mit der Studie erhofft sich der Wissenschaftler vor allem aber Erkenntnisse über die Entstehung und Qualität der "Immunantwort" auf das Coronavirus. "Wir wollen herausfinden, wie die Waffen unseres Immunsystems aussehen, also wie scharf sie sind und wie dauerhaft." Die Beobachtung von so einer Gruppe Menschen helfe der gesamten Gesellschaft – weltweit.
Erste Ergebnisse will das Klinikum Fulda schon in wenigen Tagen vorlegen. In zwei bis drei Wochen könne man dann Aussagen über die Qualität der Antikörper machen, sagt Kern. In vier bis fünf Wochen möchte er die Bewohner dann um eine zweite Blutprobe bitten, um auch die Langzeitwirkung der "Corona-Waffen" erforschen zu können.