Jedes Jahr werden Rehkitze im Frühjahr bei Mäharbeiten auf Wiesen schwer verletzt oder getötet. Die jungen Tiere haben noch keinen Fluchtreflex, sondern bleiben ruhig liegen, wenn das Mähwerk kommt. Martin Rügamer, Leiter der fast 11 000 Hektar großen und aus 18 einzelnen Revieren bestehenden Hegegemeinschaft Gerolzhofen, berichtet im Gespräch mit dieser Redaktion von den aktuellen Bemühungen, möglichst viele Kitze vor dem qualvollen Tod zu retten.
Die Setzzeit des Rehwildes, sprich die Geburt der Kitze, ist in den Mai- und Juni-Wochen. Während der ersten zwei bis drei Wochen nach der Geburt können die Kitze ihrer Mutter noch nicht dauernd folgen. Sie bleiben alleine im Gras liegend zurück und werden von der Ricke nur gelegentlich zum Säugen aufgesucht. "Die Ricke ruft das Kitz und das Kitz antwortet", berichtet Rügamer. So finden beide zueinander.
"Junge Rehe sind so gut wie geruchlos und haben in den ersten Wochen noch keinen Fluchtreflex." Bei drohender Gefahr verharren sie völlig regungslos am Boden. Ihre Fellzeichnung sorgt zusätzlich dafür, dass sie im Gras kaum zu sehen sind, auch wenn man unmittelbar daneben steht. Selbst ein Jagdhund bemerkt sie kaum. "Deswegen bringt es in der Regel auch wenig, wenn man erst kurz vor dem Mähen eine Wiese abgeht. Man findet die Kitze ja kaum", sagt Rügamer.
"Wir waren in den vergangenen Tagen praktisch jeden Abend unterwegs", erzählt Rügamer. Ziel war es, möglichst viele Wiesen, die zum Mähen anstehen, zu "verblenden", wie der Waidmann sagt. Mit "Verblendung" ist das Anbringen von verschiedenen Vergrämungsmaßnahmen gemeint. Dieses Verblenden sollte allerspätestens am Vorabend vor der Mahd durchgeführt werden. Ziel ist es, die Geißen zu veranlassen, ihre Kitze in der Nacht im Schutze der Dunkelheit aus der Wiese heraus an einen anderen (sicheren) Ort zu führen.
In den Revieren bei Gerolzhofen, erzählt Rügamer, greifen die Revierinhaber in diesen Tagen auf drei Varianten der Verblendung zurück: Bewegung, Signaltöne und Lichteffekte. "Wir bauen Scheuchen auf mit blauen Plastiksäcken." Die Farbe Blau ist dabei besonders wichtig. Rot und Grün kann von Wildtieren, die nur Grautöne erkennen, nicht deutlich unterschieden werden. Blau hingegen, eine Farbe, die in der Natur kaum vorkommt, hebt sich deutlich ab und wird von den Rehen als Gefahr erkannt.
Eine andere Möglichkeit ist der sogenannte Kitz-Retter. "Dies ist ein Gerät, das hohe Töne abgibt", erklärt Rügamer. Die Töne kommen unregelmäßig und laut und sollen die Rehe derart verschrecken, dass sie ihre Kitze aus dem Gefahrenbereich wegführen. Die dritte Alternative der Verblendung ist der Einsatz von Blinklampen. "Das sind solche Lampen, die auch an Baustellen-Absperrungen aufgehängt werden und bei einsetzender Dunkelheit mit dem Blinken beginnen." Dieses Geblinke stört ebenfalls die Muttertiere und veranlasst sie, ihre Kitze aus der Wiese zu holen.
Ob die Vergrämung erfolgreich war, lässt sich nicht an konkreten Zahlen festmachen. Schließlich weiß man nicht, wie viele Kitze in einer Wiese lagen und wie viele Jungtiere von den Ricken wegen der erzeugten Stress-Kulisse in der Nacht herausgeholt wurden. Erfolgreich ist eine Aktion immer dann, wenn möglichst wenig Jungtiere ihr Leben verlieren. "Heuer haben wir bis jetzt nur vier Kitze verloren", berichtet Rügamer von den drei Revieren rund um Gerolzhofen.
In manchen Jagdrevieren in der Region gibt es Jäger und ehrenamtliche Tierschützer, die die Wiesen kurz vor der Mahd von der Luft aus mit einer Drohne absuchen. Dabei kommen Wärmebildkameras zum Einsatz, auf denen die geduckt im Gras liegenden Kitze als Wärmesignatur zu sehen sind. Die so entdeckten Tiere werden dann vorsichtig aus der Wiese herausgetragen, immer darauf achtend, dass die Jungen nicht menschlichen Geruch annehmen.
Man habe in der Vergangenheit auch schon mit einer Drohne experimentiert, berichtet Rügamer. Allerdings sei das Gebiet, das abgesucht werden müsste, so groß, dass eine Drohne alleine bei weitem nicht ausreichen würde. Man müsste sich mehrere Fluggeräte und mehrere Kameras anschaffen. Und ein zweiter Aspekt kommt noch hinzu: "Der Einsatz der Drohne bringt nur etwas am ganz frühen Morgen." Denn wenn die Sonne steigt und der Erdboden schnell wärmer wird, hebt sich die Wärmesignatur des Kitzes nicht mehr von der Umgebung ab.
"Sicherlich gibt es es auch einige Kitze, die versteckt im Wald liegen", weiß Rügamer. Doch man dürfe nicht vergessen, dass Rehe von Natur aus eigentlich Offen-Land-Tiere sind. "Sie werden von uns Menschen nur in den Wald hineingedrängt." Die Flur sei heutzutage an vielen Stellen so ausgeräumt, dass es kaum noch Hecken und Gebüsche gebe, wo Rehe bei Bedarf Deckung finden können. Und doch sei die Flur der eigentliche Lebensraum der Rehe. "Und dort legen sie aus diesem Grund auch noch ihre Kitze ab."
Landwirte, die eine Wiese abmähen wollen, sind nach dem Tierschutzgesetz verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sich auf der Fläche keine Wildtiere aufhalten, die beim Mähen getötet oder verletzt werden könnten. "Der Bauer muss dies tun!", macht Rügamer unmissverständlich klar. Andernfalls mache er sich strafbar. Einschlägig ist hier Paragraf 17 des Tierschutzgesetzes: "Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder 2. einem Wirbeltier a) aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder b) länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt."
Verstöße von geringerem Gewicht werden als Ordnungswidrigkeiten zumeist mit Geldbußen geahndet. Weil es heutzutage zahlreiche Verblendungs-Möglichkeiten gibt, die Tötung von Rehkitzen zu verhindern, bringt das Nichtstun eines Landwirts ihm zumindest den Vorwurf des bedingten Vorsatzes ein. Andererseits müsste der Landwirt auch Wert darauf legen, dass das Tierfutter nicht von Kadaverresten der Kitze verunreinigt wird.
"Die Zusammenarbeit mit unseren örtlichen Landwirten ist generell gut", sagt Rügamer. Viele Bauern würden sich einige Tage vorher beim zuständigen Jagdpächter melden, wenn sie beabsichtigen, eine Wiese zu mähen. Dann habe man als Jäger noch genügend Zeit, um mit den aufgebauten Verblendungsmaßnahmen die Ricken dazu zu bringen, ihre Jungen aus der Wiese herauszuführen. "Allerdings gibt es leider immer noch Landwirte, die uns nichts melden", bedauert der Hegeringleiter. Deshalb gebe es bei der Zahl der getöteten Kitze wohl auch eine "hohe Dunkelziffer".