
Es ist 90 Jahre her, dass Kurt Rothschild Gerolzhofen verlassen hat. Der damals knapp 22-jährige Mann floh im März 1933 zunächst nach Holland, um einer Verhaftung durch Nationalsozialisten zu entgehen. Er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Er war in der Stadt, in der er 1910 zur Welt gekommen war, nur deshalb nicht mehr sicher, weil er Jude war. In der vergangenen Woche besuchten Rothschilds Tochter und ein Enkel Gerolzhofen. Sie suchten nach Spuren ihrer Vorfahren und wollten auch ihrer eigenen Familiengeschichte und Identität ein Stück näher kommen.
Für die 75-jährige Edna Rothschild-Azrieli ist es nicht der erste Aufenthalt in Gerolzhofen. In den 1970er Jahren begleitete sie ihren Vater Kurt Rothschild, der regelmäßig nach Würzburg reiste, einmal in dessen Geburtsstadt. Anhand einiger alter Bilder erinnert sie sich grob an das Stadtbild. Ihr Sohn Eran Azrieli dagegen war noch nie hier gewesen. Bereits nach dem ersten von zwei Tagen in Gerolzhofen ist er beeindruckt. Hier vor Ort, sagt der 47-Jährige, könne er das Tagebuch seines Urgroßvaters "plötzlich verstehen". Die Erzählungen füllten sich mit Daten und Bildern.
Tagebuch als außergewöhnliches Zeugnis der Zeit
Das Gespräch mit Eran Azrieli läuft auf Englisch. Seine Mutter spricht neben Englisch auch gut Deutsch, das sie es mit ihrem Vater gesprochen hat, bis dieser im Jahr 1994 gestorben ist. In seinem Nachlass fanden sie unter anderem besagtes Tagebuch: ein mit Schreibmaschine getipptes Büchlein auf Deutsch, in dem Kurt Rothschild auch seine Kindheit und Jugend in Gerolzhofen sowie sein Leben als "deutsch-jüdischer Flüchtling im Ausland", wie er sich darin selbst bezeichnet, notiert hat. Es ist sein Vermächtnis an seine Nachwelt. Zugleich ist es ein beredtes Zeugnis der Lebensumstände seiner jüdischen Familie in Gerolzhofen zu der Zeit, als aus der patriotisch geliebten Heimat seiner Familie unter dem Einfluss von Adolf Hitler innerhalb weniger Jahre das braune Nazi-Deutschland wurde.

Kurt Rothschild kam am 3. Juli 1910 als erstes Kind von Hermann und Babette Rothschild zur Welt. Sein im Jahr 1881 in Hörstein, einem Ortsteil von Alzenau, geborener Vater war Viehhändler. Seine 1887 geborene Mutter, eine geborene Steinhardt, stammt aus Estenfeld. Nach ihrer Hochzeit zogen sie nach Gerolzhofen; der Grund hierfür ist bis heute unklar. Sie wohnten zunächst in der Schallfelder Straße, im später abgerissenen Eckhaus an der Einmündung zur Straße "Auf der Weth", wo sich heute das Haus mit der Zahnarztpraxis Seidenstücker – zuvor Weissenseel – befindet. Im Jahr 1914 erwarb die Familie ein stattliches Anwesen in der Rügshöfer Straße 15.
Viehhändler erwirbt bankrotten Brauerei-Gasthof
Im Jahr 1929 erwarb Hermann Rothschild im Zuge einer Zwangsversteigerung die Brauerei Steinam, das fortan Brauhaus Gerolzhofen hieß. Er ließ den Betrieb des Brauereigasthofs fortführen. Kurt Rothschild half dabei maßgeblich mit und trug dazu bei, den Umsatz in kurzer Zeit deutlich zu steigern, wie er es in seinem Tagebuch beschreibt.
Anfang der 30er Jahre machte sich der "politische Umschwung in Deutschland und speziell in unserer Gegend" deutlich spürbar, hält Kurt Rothschild in seinen niedergeschriebenen Erinnerungen fest. Nazi-Anhänger verhielten sich immer häufiger offen aggressiv gegenüber jüdischen Mitmenschen. Er selbst musste etwa im März 1933 den FC Gerolzhofen verlassen, wo er Mitglied war; dies betraf damals auch alle übrigen jüdischen Mitglieder sämtlicher Vereine. Kurts Vaters Hermann wurde am 12. März 1933 in sogenannte Schutzhaft genommen, was den Nazis als reiner Vorwand diente, um Juden und politische Gegner willkürlich wegzusperren. Hermann Rothschild kam zunächst nach Würzburg ins Gefängnis und kurze Zeit später ins Konzentrationslager (KZ) Dachau, was nicht zuletzt seine ganze Familie auch in große wirtschaftliche Not stürzte.
Abenteuerliche Flucht über die holländische Grenze
Kurt Rothschild wurde Ende März 1933 von einem Bekannten gewarnt, dass auch er verhaftet werden sollte. Kurzentschlossen floh er mit dem Auto nach Hörstein, der Geburtsstadt seines Vaters, zu Verwandten. Der grölende Mob, der kurz nach seiner Flucht in Gerolzhofen vor der Haustür stand um ihn abzuführen, ging damit leer aus. Nach einigen Tagen und mit Unterstützung weiterer Verwandter gelang Kurt Rothschild zwischen Kaldenkirchen in Deutschland und Venlo in Holland die Flucht über die Grenze. Er nutzte hierzu den Trubel einer Fußballpartie zwischen beiden Orten, um ohne große Kontrolle die deutschen und holländischen Grenzposten zu passieren. Dies sei der gefährlichste Teil der Flucht gewesen, schreibt Kurt Rothschild viele Jahre später in seinem Tagebuch.
Als junger jüdischer Mann, der vor den Nazis geflohen war, gelangte er schließlich im Jahr 1935 von Frankreich aus nach Palästina. Dorthin folgten ihm im Jahr darauf seine Eltern und seine Schwestern Liesel und Hanna. Diese hatten zuletzt in Freudental (Lkr. Ludwigsburg) gelebt, wohin sie gezogen waren, weil Hermann Rothschild nach seiner Entlassung aus dem KZ nicht mehr nach Gerolzhofen zurückkehren durfte.
Gründer von Fink's Bar und Restaurant in Jerusalem
Während Hermann und Babette Rothschild im Jahr 1951 nach Deutschland zurückkehrten und bis zu ihrem Tod 1968 (Babette) bzw. 1970 (Hermann) in Würzburg in einem Altenheim lebten, blieb Kurt Rothschild in Israel. Er übernahm in Jerusalem Fink's Bar und Restaurant, welche zu einer der renommiertesten gastronomischen Adressen des Landes wurden. Seine Tochter Edna Rothschild-Azrieli führte die Bar und das Restaurant mit ihrer Familie bis zum Jahr 2014.
Der Besuch in Gerolzhofen hinterließ bei ihr tiefe Eindrücke, wie sie sagt. Besonders beeindruckt zeigte sie sich vom Besuch des Hauses in der Rügshöfer Straße, wo ihr Vater Kurt Rothschild aufwuchs. Karin Riedel, die heute dort wohnt, führte die beiden Besucher aus Israel durchs ganze Anwesen, bis hinauf in den alten Dachboden. "Der Besuch hier hat mir das Gefühl dafür gegeben, wie es damals wirklich war", beschreibt die 75-jährige Tochter von Kurt Rothschild ihre Eindrücke.

Auch Evamaria Bräuer, die die Gäste in Gerolzhofen begleitete und mit ihrem gesammelten Wissen über Familie Rothschild und die einstige jüdische Gemeinde von Gerolzhofen versorgte, spürte, wie wichtig Mutter und Sohn der Besuch der Örtlichkeiten war, die in deren Familiengeschichte zentrale Rollen einnehmen. Die beiden seien schon am Abend nach ihrer Ankunft durch die Stadt gelaufen und hätten alles auf sich wirken lassen, ebenso nochmals am Tag nach dem gemeinsamen Rundgang.
Familie verliert zwei Buben im Kleinkindalter
Zusammen waren sie auch im Stadtarchiv gewesen, wo der derzeitige Archivbetreuer Norbert Vollmann Dokumente herausgesucht hatte, die mit der Geschichte der Familie Rothschild zu tun haben. Unter anderem ist auf diese Weise anhand von Urkunden aus dem Standesamt erstmals bekannt geworden, dass Hermann und Babette Rothschild nach der Geburt ihres Sohnes Kurt zwei Söhne hintereinander im Kleinkindalter verloren haben. Im Jahr 1911 starb ein Sohn namens Max vier Wochen nach der Geburt und im Mai 1914 ein zweijähriger Sohn, dem die Eltern erneut den Namen Max gegeben hatten, im Gedenken an den zuvor gestorbenen Buben.

Diese Nachricht war auch für die beiden Besucher aus Israel völlig neu und ein zusätzliches bedeutsames Puzzleteil für das Bild ihrer Familiengeschichte. Beim Besuch des jüdischen Friedhofs von Gerolzhofen konnte Evamaria Bräuer ihnen sogar den Grabstein des zweijährigen Max Rothschild zeigen, der mutmaßlich einer in der Stadt wütenden Masern-Epidemie zum Opfer fiel.
Spontaner Besuch im Gerolzhöfer Bierkrugmuseum
Spontan öffnete auf die kurzfristige Anfrage hin Norbert Rumpel sein Gerolzhöfer Bierkrugmuseum, wo ein original Krug des Brauhauses Gerolzhofen zu sehen ist, in dem Kurt Rothschild seinerzeit arbeitete. Bei dieser Gelegenheit zeigte Eran Azrieli auch ein Foto des Reservistenkrugs seines Urgroßvaters Hermann Rothschild. Dieser hatte, wie alle seiner sieben Brüder, als Soldaten am Ersten Weltkrieg teilgenommen.

Besonders wichtig ist es Bräuer, die wohlwollende, freundliche Stimmung aller, die während des Besuchs zusammentrafen, herauszuheben. In diesem Zusammenhang dankt sie ausdrücklich Karin Riedel für den offenen Empfang im ehemaligen Haus der Familie Rothschild. Allen sei völlig bewusst gewesen, dass die Nachgeborenen keinerlei Schuld an den Ereignissen und Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus trifft. Ausdrücklich hätten sich die Besucher aus Israel und ihre Gastgeber zum Abschied voneinander nicht nur Gesundheit, sondern Frieden gewünscht – für sich, ihre Heimatländer und für die ganze Welt.
Das ist ja mehr als offensichtlich, dass das einfach ein Tippfehler (1932 anstelle 1933) war. Sie scheinen nicht gelesen zu haben, dass das später korrekt dargestellt wurde.
Natürlich musste 1932 niemand den FC verlassen, soviel zur Geschichtskenntnis.
Und die Main-Post ist kein Medium für Dokumentationen. Und auch bei Dokumentationen sind Sie vor solchen Fehler nicht bewahrt.
Traurig nur, dass wir in Deutschland immer mehr in schon fast schwarze Brühe rutschen und keiner aus der Geschichte was gelernt zu haben scheint.