"Im Klima der klassenlosen Demokratie und der Vollbeschäftigung gedeihen zwar Massenorganisationen jeder Art, ein anspruchsvoller Männerbund aber, der seinen Mitgliedern lediglich metaphysische Werte zu vermitteln verspricht und sie nicht einmal durch Publizität entschädigt, hat nur noch wenig Chancen."
So schrieb "Der Spiegel" in seiner Ausgabe Nr. 15 im Jahr 1963. Formatfüllender Titelheld dieser Ausgabe: Theodor Vogel, damals 62, Ingenieur, Bauunternehmer, Schriftsteller, vor allem aber Freimaurer aus Schweinfurt, heute anerkannt als "Einiger der deutschen Freimaurerei". Zu den heute noch bekannten Köpfen der jungen Bundesrepublik gehört Vogel - anders als etwa Thomas Dehler, Justizminister unter Adenauer und ebenfalls Freimaurer - dennoch nicht. Es hat sich in den 55 Jahren, seit die Einschätzung im "Spiegel" erschien, nicht viel verändert, was die Außenwirkung der deutschen Freimaurerei anbelangt.
Der Gründung der Loge geht die Gründung eines "freimaurerischen Kränzchens" voraus
Das war nicht immer so. In früheren Jahrhunderten galt es als Auszeichnung und erhebliche gesellschaftliche Aufwertung, in den "anspruchsvollen Männerbund" aufgenommen zu werden. Betrachtet man allein die (sehr unvollständige) Liste berühmter deutscher (und österreichischer) Freimaurer, bekommt man eine Vorstellung davon: Friedrich II., Mozart, Goethe, Lessing, Heine, Tucholsky, Ossietzky. Und Lovis Corinth, Gustav Stresemann oder - in jüngerer Zeit - Karlheinz Böhm.
Als am 28. Februar 1866 in Schweinfurt neun Kaufmänner zusammentreten, um die Gründung eines "maurerischen Kränzchens" in Angriff zu nehmen, haben sie vermutlich nicht so sehr Ruhm und Ehre im Sinn. Sie sind alle bereits Freimaurer, Mitglieder von Logen in Frankfurt, Nürnberg, Berlin, Hamburg oder Bayreuth. Und sie sind Zugezogene, die in der kleinen Stadt an der Schwelle des Industriezeitalters Fuß gefasst haben, aber "nicht ganz ohne maurerische Arbeit" leben wollen, wie es in der Chronik zum 25-jährigen Bestehen der Schweinfurter Loge "Brudertreue am Main" heißt.
Das "Kränzchen" ist eine Vorstufe, die eigentliche Loge wird am 22. November 1868 gegründet. Unter der Patenschaft der Bayreuther Loge "Eleusis zur Verschwiegenheit", gegründet 1741 von Markgraf Friedrich von Brandenburg Bayreuth, und in "Obödienz", also im Gehorsam zur Bayreuther Großloge "Zur Sonne". Ein Jahr später gründet sich übrigens in Würzburg das Kränzchen "Zu den zwei Säulen am Stein", das 1871 dann zur Loge „Zu den zwei Säulen an der festen Burg“ wird.
1866 ist das Jahr des Deutschen Krieges. Ihm folgt schon 1870 der nächste Krieg.
Die Großloge ist sozusagen die Zertifizierungsinstanz. In der Schweinfurter Urkunde wird ein Großmeister Feustel wie folgt zitiert: "Wir constituieren demnach die St. Johannisloge ,Zur Brudertreue am Main' der freien und angenommenen Maurer nach dem alten Herkommen und erteilen ihr kraft dieses Patentes die Befügnis, Maurer von bewährter Rechtschaffenheit mit pünktlicher Beobachtung der maurerischen Gesetze in den Bund der freien und angenommenen Maurer aufzunehmen und nach erkannter Würdigkeit zu Gesellen und Meistern zu befördern."
Ebenso wie die "Eleusis zur Verschwiegenheit", in deren Bayreuther Logenhaus auch das Deutsche Freimaurer-Museum residiert, besteht auch die "Brudertreue am Main" bis heute. An diesem Samstag begeht sie mit einem Stiftungsfest ihr 150-jähriges Bestehen - intern mit einer sogenannten Tempelarbeit und einer Tafelloge, zur der etliche Gäste anderer Logen erwartet werden. Veranstaltungen für die Öffentlichkeit - ein Vortrag und eine Ausstellung - sind im März geplant.
Doch zurück ins Jahr 1866. Es ist das Jahr des Deutschen Kriegs, mit dem Bismarck endgültig Österreich als Rivalen um die Reichsgründung ausschaltet. 1870/71 folgt der Deutsch-Französische Krieg, an dessen Ende die Proklamation des deutschen Kaiserreichs in Versailles steht. Eine Demütigung, für die sich Frankreich bitter rächen wird...
Das Schweinfurt von 1866 ist eine Stadt im Um- und im Aufbruch
In Schweinfurt haben erste Industrielle wie Wilhelm Sattler (Schweinfurter Grün) und die Familie Gademann bereits ihre Spuren hinterlassen. Es werden immer mehr Häuser aus Stein errichtet - die sind einerseits weniger feuergefährlich, angesichts der Holzpreise dieser Zeit ist es vor allem aber billiger. Es entwickeln sich allmählich Gastronomie und Vereinsleben. Im ein oder anderen Bürgerhaus steht inzwischen sogar schon ein "Sopha".
Die Stadt hat sich über die mittelalterlichen Befestigungsanlagen hinaus ausgedehnt, wenn auch nicht immer zum Wohlgefallen aller: "Jetzt bedeckt sich das Thal mit Wohnhäusern, mit Fabrikgebäuden, die ohne Rücksicht auf Baulinie ein wirres Häuserchaos bilden. Katzen und der Qualm der Fabrikschlöte haben die Singvögel vertrieben", schreibt der Gymnasiallehrer Friedrich Leonhard Enderlein (1801-1876) in seinen Lebenserinnerungen "Ein Menschenalter in Schweinfurt".
Es sind, wie schon zur Gegenreformation, wieder einmal Migranten, die die Stadt prägen
Immerhin: Enderlein, ebenfalls ein Zugezogener, der sich oft über das Schweinfurter Misstrauen gegen "Frömme", also Fremde, Stubenhockerei und das Fehlen von Cafés beklagt, beobachtet, dass "der letzte Rest reichsstädtischen Wesens, ein gewisses beschränktes Philistertum" inzwischen verschwunden ist. Wesentlichen Anteil an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Öffnung hat die Eisenbahn. Wilhelm Sattler hat als Lobbyist im Landtag erwirkt, dass die Strecke Bamberg-Würzburg über Schweinfurt geführt wird. Seit 1852 fahren die Züge.
Es sind wieder einmal Migranten, die Schweinfurt prägen - waren es zur Zeit der Gegenreformation die aus den katholischen Territorien vertriebenen Protestanten, die "Exulanten", sind es nun bayerische Beamte (gerne als "hargeloffene Karli" geschmäht), Geschäftsleute, Erfinder und Firmengründer. Ernst Sachs, nicht Erfinder, aber höchst erfolgreicher Vermarkter der Torpedo-Freilaufnabe fürs Fahrrad (1867-1932), ist später einer von ihnen. Auch er ist stolzer Freimaurer - was die Nachkommen in der Zeit des Nationalsozialismus freilich nicht an die große Glocke hängen.
Die Wirtschaftskrise zwischen den Kriegen vernichtet das Kapital der Freimaurer-Stiftung
Im Kriegsjahr 1870 tritt die Schweinfurter Loge zum ersten Mal an die Öffentlichkeit, "indem am 16. Dezember 54 Kindern der im Felde stehenden Reservisten und Landwehrmänner eine Weihnachtsbescherung bereitet wurde", wie es in der Chronik heißt.
1875 schließlich wird mit der Feier des siebten Stiftungsfests ein eigenes Logenhaus in der Neutorstraße bezogen. Das Haus wird 1933 von den Nazis enteignet. Nach dem Krieg wird es zwar restituiert, ist aber so baufällig, dass es Anfang der 1950er Jahre abgerissen werden muss. Die Loge hat ihren Sitz weiterhin an gleicher Stelle in der Neutorstraße - in einem Wohn- und Geschäftshaus aus den 70er Jahren.
Die Chronik verzeichnet in den Folgejahren viele denkwürdige Festivitäten mit denkwürdigen Reden hochgestellter Persönlichkeiten, die allesamt mit großem Beifall aufgenommen wurden. 1892 kann mit einem Stammkapital von 2000 Mark eine Wohltätigkeitsstiftung gegründet werden - "welche den Zweck hat, durch ihr Zinserträgnisse die Loge in der Ausübung aller Werke der Humanität zu unterstützen". Ein solches Werk ist im Ersten Weltkrieg eine tägliche Kinderspeisung, die allerdings nach knapp drei Jahren wegen "unüberwindlicher Schwierigkeiten in der Materialbeschaffung (Rationierung von Lebensmitteln)" eingestellt werden muss. Die Wirtschaftskrise zwischen den Kriegen wird mit ihrer galoppierenden Inflation das Kapital der Stiftung schließlich ganz vernichten.
Nach Ende des ersten Weltkriegs sind auch die Freimaurer ernüchtert
Die Feier zum 50-jährigen Bestehen der Loge fällt 1919 eher bescheiden aus. Entsprechend nachdenklich ist die Festrede des Stuhlmeisters Gotthold Kopp: "Hat denn auch die hiesige Stadt etwas von der 50-jährigen Maurerarbeit unserer Loge verspürt, sind ihre Spuren erkennbar geworden und ist ihr geistiges Leben von der Stadt Schweinfurt von Bedeutung gewesen? - Man möchte vielleicht im ersten Moment versucht sein, diese Frage glatt zu verneinen."
Kopps folgende Argumentation aber verweist auf eine grundsätzlichere Deutung der Freimaurerei. "Doch gemach!", fällt er sich quasi selbst ins Wort und merkt an, erst müsse man prüfen, "wieviele gute Handlungen des Einzelnen ein Ausfluß seiner maurerischen Tätigkeit gewesen sind und was ungeschehen blieb an Gemeinem und Schlechtem". Erst dann könne ein Bild dessen gewonnen werden, "was unsere Bauhütte für das sittliche und geistige Leben unserer Stadt gewesen ist".
1933 jedenfalls ist mit dem sittlichen und geistigen Leben der Stadt erst einmal Schluss. Die Nationalsozialisten erzwingen am 8. Mai die Auflösung der Loge, beschlagnahmen Bibliothek, Einrichtung und Ritualgegenstände. Die Hoffnung mancher Brüder, in dem neuen Staat "an dem Aufbau der Volksgemeinschaft, deutscher Kultur und deutschen Geistes nach unserer Weltanschauung teilhaben zu können", wie es im Jahresbericht von 1946 stehen wird, erfüllt sich nicht. Kopp, inzwischen Ehrenstuhlmeister, muss das Logenhaus dem Oberbürgermeister der Stadt übereignen, die Gestapo durchsucht die Wohnungen der Logenbrüder, registriert und überwacht jeden. "Wir konnten uns nicht wehren, wir waren rechtlos, wir mußten die Zähne zusammenbeißen und uns demütigen lassen", so der Jahresbericht.
Die politische Polizei überwacht jeden Schritt der Schweinfurter Freimaurer
Die politische Polizei nimmt die Überwachung ernst. Im Polizeibericht für Februar 1936 heißt es: "In Schweinfurt wurde festgestellt, dass sich in letzter Zeit die ehem. Mitglieder der Freimaurerloge ,Brudertreue am Main' bis zu 12 und 15 Mann stark in Wirtschaftslokalen zusammenfinden, um sich über nationalsozialistische Gesetze zu unterhalten. Die Überwachung dieser Zusammenkünfte wird fortgesetzt."
Der charismatische Redner und unkonventionelle Vordenker Theodor Vogel (1901-1977), Mitglied der Loge seit 1926, hat sich in der NS-Zeit standhaft geweigert, der NSDAP beizutreten. Als beherrschende Persönlichkeit der Nachkriegsjahre initiiert er nach Kriegsende den Neubeginn. Am 14. April 1946 findet die erste Tempelarbeit statt. Den Höchststand von 87 Mitgliedern bei Auflösung wird die "Brudertreue am Main" aber nie wieder erreichen. 42 sind tot, vier wegen ihrer jüdischen Abstammung "ins Ausland vertrieben" (Jahresbericht), sieben verschollen. Mit 30 Brüdern wird die Loge am 9. November mit Genehmigung der US-Militärregierung rekonstituiert. Heute zählt sie 37 Mitglieder.
Theodor Vogels Blick richtet sich schnell über die Grenzen von Schweinfurt hinaus. Wie andere Mitbrüder hat er erkannt, dass die Zersplitterung der deutschen Freimaurerei für das "Versagen das Bundes während der Zeit der Weimarer Zeit" (so eine interne Einschätzung) verantwortlich ist. Es gibt zwölf Großlogen mit teils unvereinbaren Regeln und zwei unversöhnliche Pole: Logen "humanitärer" und Logen "christlicher" Ausrichtung. Schweinfurt und Bayreuth sind humanitärer Ausrichtung, also konfessions- und religionsübergreifend.
Die Beziehungen zu ausländischen Logen sind nach der NS-Zeit zunächst schwierig
Nach zähem Ringen gelingt Vogel und einigen Mitstreiterin ein erster Schritt: Am 19. Juni 1949 erfolgt in der Frankfurter Paulskirche die feierliche Konstituierung der Vereinigten Großloge der Freimauer von Deutschland, zu der sich 151 Logen zusammengeschlossen haben. Freilich nur ein erster Schritt. Heute gibt es fünf Großlogen in Deutschland, deren größte die der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschlandist. Von den 15.000 deutschen Freimaurern bekennen sich 10.000 zu ihr, zu ihr gehören Schweinfurt, Würzburg, Kitzingen, Bamberg und Bayreuth. Dachorganisation hierzu sind wiederum die Vereinigten Großlogen von Deutschland – Bruderschaft der Freimaurer, kurz: VGLvD.
Theodor Vogels Engagement für Öffnung und Einigung hat viele Gründe. Einer ist die Tatsache, dass die deutsche Freimaurerei nach der NS-Zeit im Ausland nicht sonderlich gut dasteht, hatten doch manche Logen versucht, sich bei den Nationalsozialisten anzubiedern, indem sie jüdische Mitglieder ausschlossen. Auch das Verhältnis zu den Amtskirchen bleibt schwierig. Hier ist Vogel nur teilweise erfolgreich. Anfang der 1960er Jahre konzediert die evangelische Kirche immerhin, dass gegen eine Mitgliedschaft evangelischer Christen in der Freimauerei "ein genereller Einwand" nicht erhoben werden könne. Die Konferenz der deutschen katholischen Bischöfe hingegen schreibt 1980 die Unvereinbarkeit zwischen Katholizismus und Freimaurerei fort. Diese Enttäuschung aber erlebt Vogel nicht mehr. Er stirbt 1977, oder, wie die Freimaurer sagen: Er hat am 9. Februar die Werkzeuge irdischen Bauens aus den Händen gelegt.
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