Otto Reichert erinnert sich noch gut an das kleine Mädchen im Operationssaal, das beim Narkotisieren plötzlich ganz aufgeregt rief: "Das riecht wie die Mama am Sonntag." Mitte der 1960er-Jahre, als der heute 84-Jährige als junger Chirurg am St.-Josef-Krankenhaus in Schweinfurt praktizierte, wurden die Patienten noch mit einer Äther-Tropfnarkose in den Schlaf versetzt.
Um den beißenden Geruch des Äthers zu überdecken, hatten die Schwestern bei dem kleinen Mädchen zu einem einfachen Mittel gegriffen und das Mulltuch vor dem Auflegen auf die Nase mit einigen Tropfen Kölnisch Wasser benetzt. Jenes legendäre "4711", mit dem sich Frauen zur damaligen Zeit an Sonn- und Feiertagen bevorzugt parfümierten.
Sonntagsparfum gibt es heutzutage nicht mehr, und Äther als Narkosemittel ist längst abgeschafft. Das St.-Josef-Krankenhaus aber ist geblieben und nicht mehr wegzudenken aus dem medizinischen Versorgungsangebot der Stadt Schweinfurt. Gegen den Widerstand der Stadtväter vor 90 Jahren gebaut, im Krieg zerstört und wiederaufgebaut, haben die Würzburger Erlöserschwestern die ehemals für katholische Patienten errichtete Klinik zu einem modernen Akutkrankenhaus der Grund- und Regelversorgung gewandelt.
Einen entscheidenden Anteil daran hatte Dr. Otto Reichert, der von 1972 bis 2001 Chefarzt und ärztlicher Direktor des St.-Josef-Krankenhauses war. Der gebürtige Birnfelder war nach seinem Medizinstudium 1965 als Chirurg an das St.-Josef-Krankenhaus gekommen, machte dann seine Facharztausbildung als Anästhesist und baute anschließend die neue Abteilung "Anästhesie und Intensivmedizin" auf. In ganz Unterfranken gab es damals nur vier Krankenhäuser mit einer eigenen Anästhesie-Abteilung. "Narkose wurde früher von den Operateuren und den Schwestern nebenbei mitgemacht", erinnert sich Reichert.
Kölnisch Wasser kommt heute nicht mehr zum Einsatz
Heute ist das anders: Im Josefs-Krankenhaus stehen in den vier Sälen der zentralen OP-Abteilung modernste technische Geräte zur Verfügung. Über 5000 Patienten werden jährlich bei diagnostischen und operativen Eingriffen anästhesiologisch von einem Facharzt- und Fachpflegeteam betreut. Narkotisiert wird natürlich auch nicht mehr mit Mulltuch und Äther. Und Kölnisch Wasser kommt erst recht nicht mehr zum Einsatz.
Otto Reichert hat in seinem Fotoalbum gestöbert. Eine Aufnahme zeigt ihn mit zwei Erlöserschwestern, eine andere bei einer Segnungsfeier. Der 84-Jährige weiß nicht mehr, wann die Fotos entstanden sind und zu welchem Anlass. In seiner 30-jährigen Zeit als Chefarzt und ärztlicher Direktor gab es aufgrund des medizinischen Fortschritts viele Umwälzungen, Neuerungen, Veränderungen. "Alle halbe Jahr stand ich bei der Oberin auf der Matte, um neue Ausstattung zu bestellen." Sie habe dann immer nur mit dem Kopf geschüttelt und lächelnd geseufzt: "Sie schon wieder!"
Krankenpflege war früher reine Schwesternsache
An die 100 Erlöserschwestern waren damals im St.-Josef-Krankenhaus tätig. "Wir hatten eine gute Zusammenarbeit", sagt Reichert. Die Schwestern assistierten im OP und betreuten die Patienten. Krankenpflege war damals reine Schwesternsache. "Damals gab es auch keinen Acht-Stunden-Tag." Weder für die Schwestern noch für den Chefarzt.
Reichert hat in seiner Zeit als ärztlicher Direktor auch den Rettungsdienst aufgebaut und koordiniert. Ein Dienst, der damals noch keine Pflicht war. So kam es vor, dass bei Notfällen mitunter mehrere Rettungsteams gleichzeitig ausrückten. "Die hörten den Polizeifunk ab, und wer am schnellsten war, nahm den Patienten mit und hat ihn mit dem Sanka in irgendein Krankenhaus gebracht", verweist Reichert auf den Konkurrenzkampf unter den Hilfsorganisationen.
"Das habe ich dann abgestellt." Reichert führte sozusagen den Notarzt ein. Er fuhr ab da immer mit zur Unfallstelle und entschied nach medizinischen Gesichtspunkten, in welche Klinik der Patient gebracht werden musste. Schwere Fälle kamen nach Würzburg. Weil es seinerzeit noch keine Rettungshubschrauber in Schweinfurt gab, nutzte Reichert seine guten Kontakte zu den US-Streitkräften. Wenn was "Schlimmes" passiert war, rief er eine bestimmte Nummer an und sagte nur: "Mr. Hart, I need your help." Sofort stieg ein Militär-Hubschrauber auf und übernahm den Rettungsflug. "Kostenlos."
Reichert flog immer mit. Bis zu jenem schicksalhaften Tag. Es gab einen nächtlichen Unfall, der Chefarzt war allerdings anderweitig schon im Einsatz. Der Army-Hubschrauber machte sich deshalb alleine auf den Weg, blieb in einem Baum hängen und stürzte ab. "Alle Insassen waren tot. Das war sehr tragisch." Als Notarzt erlebte Reichert auch privat einen schweren Schicksalsschlag. Er war 1976 zum tödlichen Unfall der eigenen Ehefrau gerufen worden.
Unter Chefarzt Dr. Otto Reichert wuchs die Anästhesieabteilung
Eigentlich sollte Otto Reichert gar keine akademische Laufbahn einschlagen. Als Bub vom Lande wäre es den Eltern am liebsten gewesen, er hätte den landwirtschaftlichen Hof übernommen. "Aber ich taugte nicht zum Bauern", meint der 84-Jährige schmunzelnd. Die Eltern hätten das erkannt, als ihm eines Tages beim Heimbringen der Kühe von der Weide ein Tier verloren ging. Und so durfte der damals Zehnjährige aufs Gymnasium gehen, Abitur machen, studieren und Arzt werden.
In den 30 Jahren seiner Zeit als Chefarzt und Ärztlicher Leiter erlebte Reichert große Fortschritte in der Medizin mit: Die Computertomographie wurde entwickelt, das erste Retortenbaby gezeugt und das erste eigenständig arbeitende Kunstherz eingesetzt. "Es gab plötzlich Operationen, die früher unvorstellbar waren." Auch dank der Weiterentwicklung der Anästhesie, die ein eigener Fachbereich wurde. Im Josefs-Krankenhaus wuchs diese Abteilung unter der Chefarzt-Leitung von Otto Reichert auf neun Ärztinnen und Ärzte an. Seine zweite Ehefrau Barbara arbeitete hier ebenfalls als Anästhesistin.
Auch die hygienischen Maßnahmen bekamen erst nach und nach einen höheren Stellenwert. "Wir sind früher auch mal mit Straßenschuhen und ohne Haarnetz in den OP", erinnert sich Reichert. Benutzte Injektionsnadeln wurden nachgeschärft und wieder verwendet. Verbandsmaterial kam in die Waschmaschine, und das Aufrollen von Binden war Ergotherapie für Patienten. Früher sei es "normal" gewesen, wenn Patienten nach schweren Operationen verstarben. Die Intensivmedizin könne heute hier viele Leben retten. Corona gab es natürlich auch nicht, wohl aber die Grippe. Doch dafür ging man nicht ins Krankenhaus, "die wurde zuhause auskuriert".
Über 170 Uhren in der Sammlung
Otto Reichert verfolgt weiterhin mit großem Interesse die medizinische Entwicklung. Aber wenn der 84-Jährige heute das Josefs-Krankenhaus besucht, kommt er in eine fremde Welt. "Vieles verstehe ich nicht mehr", meint er mit Blick auf die Gerätemedizin. Da widmet er sich lieber seinem Klavier oder seinem zweiten Beruf und Hobby, der Uhrmacherei. Seit seiner Jugendzeit sammelt er Uhren aller Art.
Über 170 Exemplare befinden sich in seinem Haus, von der kleinen Taschenuhr bis hin zu einer alten Turmuhr aus Oberfranken. Auch so seltene Exemplare wie die Borduhr eines sowjetischen Jagdbombers MIG 19 oder eine Sakristeiuhr gehören zu seinem Besitz. Otto Reichert hat sie alle repariert und restauriert, aber immer nur eine gibt die Zeit an. Alle anderen ruhen exakt auf 13.50 Uhr und warten, bis sie zum Einsatz kommen. Jede Woche ist eine andere Uhr an der Reihe.
"Es war eine schöne Zeit im Josefs-Krankenhaus", resümiert der 84-Jährige nach dem zweistündigen Gespräch, das so manche Erinnerung wachgerufen hat. So wie die Episode mit der kleinen Patientin, die mit dem "Sonntagsgeruch" ihrer Mutter dann doch noch in den OP-Schlaf gefallen ist.