"Rasiert wird erst, wenn der Bauer gezahlt hat", lautet die Regel für jeden Senner, der den Sommer über auf einer Alm verbracht hat. Edwin Albert hält sich nicht daran. Auch wenn der Auftraggeber ihm nichts mehr schuldet, hat er lediglich das etwas ausufernde Gestrüpp in seinem Gesicht zurechtgestutzt. Noch nie in seinem Leben hat der jetzt 61-jährige aus Alsleben Bart getragen, jetzt will er ihn doch noch eine Weile stehen lassen. Vier Monate auf der Hinterweissachalm - exakt vom 23. Mai bis 28. September - liegen hinter ihm, seiner Frau Marita und Aika, der Airedale Terrier-Dame.
Vier Monate - deren Auswirkungen der gelernte Dreher in einem Satz zusammenfassen kann: "Das ist Doping für Leib und Seele". Mit dem Sommer auf der Alm hat er sich jetzt in der passiven Phase der Altersteilzeit einen Lebenstraum erfüllt, den auch seine Frau bereit war, zu teilen. 22 Kühe von vier Bauern hatten die Alberts zu betreuen. Das hieß tägliche Stallarbeit, melken, die Tiere zu einer der acht Kuhweiden bringen und holen und nach den 16 Jungrindern und acht Kälbern zu schauen, die wieder auf anderen Weiden standen. Und auch als Geburtshelfer waren sie gefragt. Kälbchen Theo kam am 8. Juli zur Welt, wie Albert notiert hat.
Nach ein paar Wochen ist man fit wie ein Turnschuh
Immer wieder musste die Weide neu abgesteckt werden, was eine Aufgabe für den Mann ist. Da kommen ordentlich viel Kilometer und Höhenmeter zusammen. Die von Medizinern für eine bessere Fitness empfohlene Strecke von 10 000 Schritten täglich hat er jedenfalls locker erreicht. "Wer das ein paar Wochen macht, ist fit wie ein Turnschuh", schmunzelt Albert. Und weil er dies anfangs nicht war, hegte er auch Zweifel, ob das große Pensum gestemmt werden könnte. Die Skepsis gegenüber den eigenen Fähigkeiten erwies sich dann als unbegründet. Denn nach den vier Monaten seien die Bauern sehr mit ihnen und dem Zustand der Kühe zufrieden gewesen, freut sich das Ehepaar Albert, dass dann auch noch bei einem Almabtrieb mitmachen durfte.
Alle zwei Tage brachte die Sennerin auf Zeit mit einem Traktor die Milch zur sechs Kilometer entfernten Hochtalalm, wo sie verarbeitet wurde. "Wir haben 28 000 Liter Milch gemolken", sagt Edwin Albert schon mit etwas Stolz in der Stimme. Aber natürlich nicht mit der Hand, sondern mit der Melkmaschine. Die Tiere verbrachten übrigens die Nächte auf der Weide, wurden dann um 7 Uhr von den Alberts geholt und gemolken und standen tagsüber im Stall, draußen wären sie sonst von Bremsen und Stechmücken zu arg gepiesackt worden. Denn auf 1048 Meter Höhe gibt es die Plagegeister durchaus noch. Wer die loswerden will, muss noch ein Stück höher steigen. Wie den Alberts einer der Bauern verraten hat, finden die Kühe wegen ihres ausgeprägten Geschmackssinns die guten Gräser, auch wenn es stockdunkel ist.
Kuh mit Charakter: Alexa brauchte immer eine Extraeinladung
Wer sich mit Kühen etwas auskennt, der weiß, dass es sich um intelligente Tiere mit unterschiedlichem Charakter handelt, denen ihr Besitzer meist auch Namen geben. "Alexa" beispielsweise hatte sich stets den höchsten Punkt der Weide zum Grasen ausgesucht. Sollte es dann nach Hause gehen, ignorierte sie alle Rufe und bestand auf eine "Extraeinladung", wie Edwin Albert beschreibt. Erst wenn er zu ihr hochgestiegen war, entschied sie sich dann aber zu einem so flotten Abstieg, dass er kaum hinterherkam.
Als Sohn einer Landwirtsfamilie hatte Albert schon als Kind Erfahrungen mit Kühen sammeln können, während seine Frau, die aus dem Höchheimer Ortsteil Rothausen stammt, nur ganz allgemein "Tierliebe" als Bewerbung für den Senner-Job erwähnen konnte. Trotzdem erhielten sie unter rund 40 Bewerbern den Vorzug, wobei das gesamte Auswahlverfahren wegen der Corona-Pandemie und der sehr hohen Inzidenzzahlen Ende des vergangenen Jahres nicht wie gewohnt über die Bühne gehen konnte. So hatten die Alberts keine Möglichkeit, die Hütte und das Umfeld vorherzusehen, aber auch die Arbeitgeber mussten sich auf den Eindruck verlassen, den sie aus Telefonaten gewonnen hatten.
Der Verzicht auf Internet und Fernsehen fiel den Alberts nicht schwer
Während ihres Aufenthaltes mussten die Alberts auf Internet und Fernsehen verzichten, was sie aber nicht störte. Mit dem Handy telefonieren ging nur von wenigen Stellen aus, weswegen es auch Bedingung war, dass zwei Personen die Hütte beziehen sollten. Bei einem Unfall oder einer schweren Erkrankung, wäre dann immer noch jemand dagewesen, um Hilfe zu holen. Wegen der Abgeschiedenheit am Ende eines Schotterweges, - bereits neun Kilometer vor der Hütte versperrte eine Schranke die Weiterfahrt - kam kaum jemand vorbei. Nur einmal die Woche ging es zum Einkaufen ins Dorf Brixlek, was eine Stunde Hin- und Rückfahrt bedeutete.
Besuch aus der Heimat hatten die Alberts sich aber auch eingeladen. Die Leute mussten dann auf dem Dachboden nächtigen, der sonst der bevorzugte Aufenthaltsort kleiner Haustiere war, die normalerweise aufpassen müssen, keiner Katze zu begegnen. Weil es die auf der Alm aber nicht gab, mussten andere Mittel helfen.
Sage und schreibe 354 Mäuse gingen in den vier Monaten in die Falle. Ganz so unkomfortabel, wie man vielleicht denken könnte, war das Leben auf der Hütte im Weißbachtal am Fuße des gut 2200 Meter hohen Berg Guffert aber nicht. Über Wasserkraft wurde der Strom für Licht, Kühlschrank und für die Weide gewonnen, ein Aggregat lieferte den Strom für Melk- und Waschmaschine. Vier Hühner, die ihnen eine Bäuerin mitgegeben haben sorgten für die Eier zum Frühstück und zum Kuchenbacken im Holzofen.
Wo gibt es den Platz, wo Butterstücke wie Goldbarren aussehen?
Alles zusammen genug für ein einfaches, aber doch sehr reiches Leben. Die bunten Blumenwiesen, die reine Luft, die himmlische Ruhe, der grandiose Sternenhimmel, das Rauschen des Wassers, das man trinken kann und nicht zuletzt die Gämse, die sie immer beim Frühstück beobachten konnten - Edwin und Marita Albert hätten nicht tauschen wollen.
Nächstes Jahr wollen sie wieder auf die Alm. Um wie viel mühseliger war da doch das Sennerleben des über 70-jährigen "Pepi" auf der gut 400 Meter höher gelegenen Issalm, den das Ehepaar Albert einmal besucht hat. Alles, was man zum Leben braucht, muss dort zu Fuß nach oben geschleppt werden, wo der Pepi aus Milch Graukäse herstellt und Butter in Modeln presst, die aussieht wie Goldbarren. Noch jetzt ist Albert verzückt, wenn er an den Geschmack denkt. "Das auf ein Brot - da brauchst Du nichts mehr anderes."