Auf dem Sonnenberg
Der Sonnenberg hat seinen Namen nicht von ungefähr. "Im Sommer ist dort von Früh bis Abend Licht, der Blick geht tief hinunter ins Tal, das sich Richtung Meran zieht. Es ist schon ein herrliches Panorama", schwärmt Michael Diestel. Er schwärmt auch dann noch, wenn er von den müden Knochen erzählt, vom ermatteten Leib, der sich nach einem harten Arbeitstag auf dem Bergbauernhof hoch über Schlanders ins Bett bewegt, um rasch in einen Schlaf zu fallen, wie er tiefer und erholsamer schon lange nicht mehr war.
Das also ist aus Renate Diestels großem Traum geworden. Die Unslebener Tierärztin träumte schon immer von einer eigenen Alm, die sie bewirten wollte, mit Ziegen, mit Schafen. Hinter diesem Traum steckte mehr als Heidi-Romantik, denn das Ehepaar Diestel machte sich ernsthaft auf die Suche. "Dabei stießen wir auf die Aktion Bergbauernhilfe Südtirol", erzählt Michael Diestel in seinem Geschäftsführer-Büro des Bayerischen Bauernverbandes in Bad Neustadts Berliner Straße.
Hilfe zum Überleben
Die Bergbauernhilfe ist eine gemeinsame Aktion des Südtiroler Bauernbundes und der Caritas, die vor rund zehn Jahren angeregt wurde. Damit sollen freiwillige Arbeitseinsätze auf den abgelegenen Gehöften vermittelt werden. "Früher hatten die Bergbauernfamilien viele Kinder und damit billige Arbeitskräfte. Bis heute ist die Arbeit auf den abschüssigen Feldern nur eingeschränkt zu automatisieren, viel Handarbeit ist hier gefragt. Heute ist der Bedarf an Saison-Kräften eigentlich nicht zu bezahlen. Die Bergbauernhilfe ist also in erster Linie ein soziales Projekt", erklärt Diestel weiter. Und weil Kost und Logis frei sind, kann ein Aufenthalt auch ein preiswerter Urlaub sein.
Dass es keinesfalls um Nostalgie-Urlaub auf dem Bauernhof geht, war der Familie Diestel bei ihrem ersten Einsatz im Jahr 2003 klar. Die Diestels waren früh am Morgen, nach vierzig Minuten Serpentinen auf der einspurigen Straße den Sonnenberg hinauf, auf dem Außeregg-Hof bei Schlanders angekommen: Michael, Renate, der einjährige Paul und der damals vierjährige Peter. Es war ein Regentag, der alle Schönheit des Vinschgaus unter einem Schleier verbarg.
"Grüß Gott, wir sind die Neuen", hatte sich Michael Diestel mit seiner Familie beim Landwirts-Ehepaar Florian und Katja Weißenhorn vorgestellt. Dann gab es Kaffee und frisch gebackene Semmeln. Danach hieß es im Südtiroler Zungenschlag: "Renate, du gehst nach die Kinder! Und Michael hilft beim Heumachen!"
So begannen für die Rhöner Familie zwei Wochen in ihrem schweißtreibenden Paradies. Zum Paradies freilich gehörte auch die "Höll". Michael Diestel hat die Höll mehrmals erlebt. Die Höll ist jener Teil des Wiesenhangs, an dem man das getrocknete Heu nicht einfach nach unten auf den nächsten Zufahrtsweg rechen kann, wo es dann mit dem Schlepper abgeholt wird. Stattdessen muss das Viehfutter mühsam wieder den Berg hoch gerecht werden, zur nächsten Serpentinen-Kurve.
Zu steil für den Alpinisten
An diesen steilen Hängen scheitert auch das Allzweck-Fahrzeug mit seiner extrem kurzen Übersetzung, der "Alpinist". Immer wieder ist Handarbeit gefragt unter diesen extremen Bedingungen. Gerade einmal ein Balkenmäher kommt hier zum Einsatz. Die Feinarbeit erledigt Bauer Florian mit der Sense.
Die Familie Diestel weiß seither, welche Mühsal sich hinter den Postkarten-Landschaften Südtirols verbirgt. "Im Grunde lassen sich diese Höfe nicht einmal mehr im Nebenerwerb wirtschaftlich führen", meint der studierte Landwirt Michael Diestel. Auch die Südtiroler Behörden haben erkannt, dass die Bergbauern "eine landeskulturelle Aufgabe" erfüllen und die Flächen frei halten. "Das gilt ja auch für unsere Rhön. Ich bin der festen Überzeugung, dass nur die Landwirtschaft diese einzigartige Landschaft mit ihren offenen Flächen zu erhalten vermag", vergleicht Diestel die Südtiroler mit den Rhöner Verhältnissen. Also wird von der Südtiroler Autonomie-Regierung auch die Anlegung von Trocken-Mauern oder authentischen Weidezäunen aus Bruchholz die ursprüngliche Kultur gefördert, die eine Kulturlandschaft auch touristisch interessant macht. Diestels Rede hat hier nichts von berufsmäßigem Pathos. Dieser Mann ist von echter Leidenschaft für den Bauernstand getrieben, von Hingabe zu einer Arbeit mit Händen, mit dem Boden, mit der eigenen Scholle.
"Ich komme nicht aus einer Landwirte-Familie. Ich wollte aber den Beruf erlernen, den mein Vater liebte, aber nicht wählen konnte", sagt der BBV-Geschäftsführer mit Wurzeln in der Oberpfalz. Immerhin: Sein Urgroßvater hatte einst große landwirtschaftliche Güter in Mecklenburg-Vorpommern betrieben. Ein wenig liegt die Liebe zum Bauerntum also schon im Blut.
Die Kinder sind dabei
Alles deutet darauf hin, dass auch die nächste Generation der Diestels in diesen schönen Sog der Leidenschaft gerät. "Die Kinder? Die sind einfach dabei", erzählt Vater Michael. "Die brauchen auf dem Berghof keine Club-Betreuung. Es ist einfach erstaunlich, mit welch einfachen Mitteln die ihren Tag gestalten", berichtet der Vater. "Wenn ich die Buben frage, wo sie denn ihren nächsten Urlaub verbringen wollen, dann sagen sie nur: auf dem Bauernhof", sagt Diestel.
Längst hat sich durch den engen Kontakt mit der Gastfamilie eine Freundschaft entwickelt. "Mit mir zusammen ist der Florian das erste Mal auf seinen Hausberg geklettert. Es war ein Urlaubstag für ihn", erinnert sich Michael Diestel.
Schließlich lebt man so eng mit den Bergbauern zusammen, dass man sehr intensiv auf Tuchfühlung mit den Einheimischen kommt. Dabei bleiben auch die sozialen und familiären Spannungen auf dem Hof nicht verborgen. "Die extreme Arbeit dort oben bringt auch extreme Charaktere zu Tage", erklärt Michael Diestel. Einer dieser Charaktere ist Frieda, die verwitwete Mutter des Bauernehepaars. Der simple Bau eines etwas breiteren Steges zum Schweinestall kann da zu kleinen Machtkämpfen führen. Was Michael Diestel wohlmeinend gebaut hat, damit Florian mit seinem Schubkarren nicht ständig auf dem glatten Brett abschmiert, war für Frieda schon ein verschwenderischer Umgang mit wertvollem Rohstoff Holz. "In solchen Situationen muss man sich entscheiden, auf wessen Seite man sich in der Gastfamilie stellt", sagt Michael Distel.
"Nur die Landwirtschaft kann solche Kulturlandschaften sinnvoll erhalten"
BBV-Geschäftsführer Michael Diestel zur Bergbauernhilfe-Aktion
Nun, bei der Marende, der täglichen Brotzeit am späten Mittag, kann man solche Meinungsverschiedenheiten diskutieren. Mittlerweile ist das Vertrauensverhältnis zwischen den Familien so gut, dass öfter mal ein Anruf aus dem Vinschgau kommt und Tipps zu diesem und jenem Thema erbeten werden.
"Beim letztjährigen Bauernball in Wollbach war die Familie Weißenhorn zu Besuch. Es war ihr erster Auslandsurlaub. Da gab es natürlich einen großen Empfang für die Südtiroler", erzählt Diestel.
Zu Pfingsten werden die Diestels aus der Rhön bald zum vierten Mal auf den Außeregg-Hoff auf den Sonnenberg fahren. Wieder einmal ruft viel Arbeit in der Höll. Es werden gewiss himmlische Tage sein.