
Beginnen wir, weil sie so bezaubernd war, mit einer Szene aus der Mitte dieses klangvollen Abends in der "Weinschenke von Alois Dörr". Jochen und Kerstin, das sind die Wirtsleut', haben einander die Hände über die Schultern gelegt und schweben kreisend über den Boden in der Mitte der Gaststube. An den Tischen rundum klatschen die Gäste zum Takt der Musik, einem schwungvollen Stück irischer Volksmusik.
Auf den alten Holztischen wackeln die Weingläser mit dem guten Stöffchen aus Frickenhausen am Main oder vom Escherndorfer Lump, dazu schickt Wirtin Kerstin ihr glückseliges Lächeln in die begeisterte Runde.
Irische Musik und Obazda in der Weinschenke Dörr in Bad Neustadt
Irische Musik von einem bunt zusammengewürfelten "Folk-Stammtisch", halbtrockener Frankenwein aus klangvollen Lagen, eine Brotzeit mit Obazda und Schinken dazu: Die Mischung hier am Rand des Marktplatzes von Bad Neustadt (Lkr. Rhön-Grabfeld) ist für irdische Verhältnisse perfekt. Dabei wäre alles tot und ausgestorben, wenn Jochen Pechthold, der Maurermeister, und seine Lebensgefährtin Kerstin Jackson, die Versicherungsangestellte, nicht wären.

Die Weinschenke Dörr war jahrzehntelang eine gastronomische Institution der Kreisstadt – bis 2015. Marianne Weidt, die letzte Wirtin, musste aus gesundheitlichen Gründen Weinstube und damit auch Elternhaus aufgeben. "Ich war 37 Jahre lang Stammgast hier. Ich hatte nur gedacht: Die Weinstube gehört doch zu Bad Neustadt", erzählt Pechthold mit unverkrampftem Rhöner Zungenschlag.
Man merkt gleich, der Maurermeister ist eigentlich zum Wirt geboren. "Erna, setzt' dich, die Suppe wird kalt!", ruft er einer Frau zu, an deren Platz Obazda wartet. Nächster Spruch: "Hopp, ich häng' dich auf!" Da will Jochen Pechthold nur für einen anderen Gast die Jacke an die Garderobe bringen.

Was die Weinbestellungen betrifft, so muss sich der Chef arg konzentrieren. Partnerin Kerstin, eine gebürtige Gerolzhöferin, unterscheidet die Sorten mit etwas mehr Routine. Es geht aber auch turbulent zu in der guten Stube unter den Klängen von Gitarren, Querflöten, irischen Sehnsucht-Texten und einem pustenden Harmonium, einer Art Mini-Orgel mit Blasebalg.
Aber genau das wollten die beiden ja, als Pechthold 2017 das baufällig gewordene Anwesen übernahm und schließlich 2018 die Bagger anrücken ließ für einen Neubeginn des Traditionshauses. "Hier wurde schon immer gesungen und musiziert und das sollte auch weiterhin so sein", sagt der Wirt.
Mit Ende 50 hat der Maurermeister das gewagte Projekt Weinschenke in Angriff genommen und die Weinstube wieder aufgebaut. Im Juli 2019 wurde eröffnet. Dann kam die Corona-Pandemie, pünktlich und eher unpassend wie der Ruf der Kuckucksuhr in der Gaststube über dem Türstock zur "Küch'", wie auf dem Holzschild steht. Links daneben eine weitere wichtige Infotafel: "Nei's Gloh".

Den Gang dorthin vergisst man aber unter dem Schein der Wirtshaus-Lampen, die mit schmiedeeisernen Weinblättern garniert sind. Man will ja nichts von der Musik verpassen. Heute ist es eine Gruppe junger Leute, die sich dem irischen Folk verschrieben hat. Daniel und Susanne Schlössinger von der Band "Whistling to the Bird" haben Platz genommen.
Peter Schmitt aus Steinach war mit seiner Gitarre schon einige Male in der Weinstube Dörr, die genau genommen seit dem Neubeginn "Weinschenke von Alois Dörr" heißt. Neugierig schauen sich unterdessen Carlo Hilsdorf, Musiklehrer in Bad Kissingen, und seine Frau Sonja um. Für sie ist es die Premiere in der Bad Neustädter Institution.
Auch Häisd'n'däisd vomm Mee waren schon in Bad Neustadt
Yvonne Reitelbach, ebenfalls Musiklehrerin aus Bad Kissingen, lässt ihre Finger über die Querflöte gleiten, dazu gesellt sich der raue Ton der Mundharmonika von Bruno Heinl aus dem nahen Wollbach. "Das ist eine wirkliche Heimstätte für Musiker", freut sich Peter Schmitt. "Man wird irgendwo hingesetzt, dann geht es schon los." Schmitt ist mit Folk ebenso vertraut wie mit Volksmusik.
Und genauso bunt ist die Musikantenschar, die in der Weinstube Dörr schon zusammengekommen ist seit der Neueröffnung. Sei es in der guten Stube oder draußen in der kleinen Weinlaube, über die sich die neuen Reben ranken. "Häisd'n'däisd vomm Mee waren schon da, Owang aus den Rhöner Walddörfern oder Thomas Loefke mit Harfenmusik", schwärmt Jochen Pechthold, der seit kurzem Rentner ist und über längere Öffnungszeiten nachdenkt.
Die Weinschenke Dörr aus Bad Neustadt begeistert bis ins Burgenland
Plaudernd, lauschend und vom Wein schlürfend sitzen auch Waltraud und Gottfried Putz an ihrem reservierten Tisch, einem Originalmöbel von 1932. Seit über 30 Jahren kommt Ehepaar Putz aus dem ebenfalls weinseligen Burgenland in die Rhön, eine bis heute lebendige Verbindung aus Kontakten zur Preh-Werkskapelle.
"Es ist schön hier. Wir kennen solche Wirtshausmusik auch, aber es gibt sie eben auch im Burgenland nicht mehr so oft", sagt Gottfried Putz und genießt das gesellige Treiben, das er schon vor Jahrzehnten hier genossen hat. Zu den Weitgereisten passt der alte Gassenhauer "Heute hier, morgen da", den der Folk-Stammtisch gerade anstimmt.

"Alleine kann man so etwas nicht machen", sagt Wirt Pechthold und zwinkert seiner Kerstin zu. "Bärle", ruft er ihr liebkosend im Beisein der Gäste zu. Und man weiß nicht, ob der Kosename von der Perle des Hauses kommt oder von den Bärenkräften, mit denen sie mit anpackt – vom Weinkauf bis zur Arbeit in der Küche.
Die gelernte Hotelfachfrau hätte jedenfalls nicht gedacht, dass sie noch einmal zu ihren beruflichen Wurzeln zurückkehrt. "Die Weinstube ist unsere Liebe, die Arbeit hier mache ich von Herzen gern!"
Unvergesslicher Spruch gilt bis heute: "Hauptsache, die Leute haben ihre Freude."
Jochen Pechthold geht es nicht anders, der sich in der Schuhmarktstraße von Bad Neustadt einen Traum erfüllt hat, den er ja nie zu träumen wagte. Das Wichtigste sei die Lebensfreude, um die es in seiner Weinschenke geht, sagt er: "Die letzte Besitzerin Marianne Weidt hatte einen unvergessenen Spruch an manchen Abenden: Naja, rentiert hat es sich heute nicht, aber Hauptsache, die Leute freuen sich."
Seit einem Jahr wohnen die Wirtsleut' sogar über ihrem gemütlichen Lebenstraum im ersten Stock. Manchmal, wenn es die Zeit zulässt, greift Jochen Pechthold dort zur Steirischen und spielt für sich das eine oder andere Stück. Man kann davon ausgehen, dass es gut gelaunte Klänge sind.