
Ein Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt nach Feierabend, nach dem Weihnachtsessen ein Schnaps zur Verdauung und an Silvester ein Sekt zum Jahreswechsel. Was für viele Menschen feste Rituale an den Feiertagen sind, ist für alkoholsüchtige Menschen eine Gefahr.
Stefanie Mutz-Humrich (51) ist ärztliche Direktorin und Chefärztin der Saaletal-Klinik in Bad Neustadt und arbeitet seit rund 20 Jahren mit Suchtkranken. Im Interview erklärt sie, welche Strategien Süchtigen gerade über Weihnachten helfen und wie Familien Alkoholsucht ansprechen sollten.
Dr. Stefanie Mutz-Humrich: Alkoholkonsum gehört zum Fest dazu. Auch Leute, die sonst nicht trinken, trinken an Weihnachten oder Silvester. Überall finden Feiern statt. Einerseits ist die Versuchung größer, andererseits kommt es in dieser Zeit in vielen Familien zu Krisen, was das Alkoholverlangen triggern kann. Viele unserer Suchtpatienten verbinden Weihnachten mit Trennungen, Verlusten, unschönen Kindheitserinnerungen und belastenden Situationen. Die Rückfallgefahr ist in dieser Zeit besonders hoch.
Mutz-Humrich: Offen darüber sprechen und sich Gedanken über das Fest machen. Alkoholfreies Bier oder alkoholfreie Cocktails und Sekt sollten auf gar keinen Fall konsumiert werden. Ein alkoholfreies Bier schmeckt wie echtes Bier, aber irgendwann fehlt Betroffenen dann doch der klassische Alkoholeffekt und es kommt zum Rückfall. Ansonsten sollten Alkoholkranke auf keinen Fall von Angehörigen mit Alkohol versorgen werden. Wenn das passiert, spricht man von Co-Abhängigkeit.
Mutz-Humrich: Nicht in Anwesenheit eines Alkoholikers oder einer Alkoholikerin Alkohol trinken. Das heißt, trockene Weihnachten für alle, sonst wird es schwierig, zu widerstehen. Das erste trockene Jahr ist das gefährlichste für einen Rückfall, da sollten starke Trigger gemieden werden – besonders schwer ist der Einkauf am Alkoholregal vorbei. Da ist es wichtig, die Angehörigen mit ins Boot zu holen und zu überlegen, kannst du das allein oder gehen wir gemeinsam einkaufen.
Mutz-Humrich: Nicht allein bleiben. Sich unter Menschen begeben, die nicht trinken und Vertrauten sagen, dass ein Suchtproblem vorliegt. Wichtig ist, um Hilfe zu bitten, wenn es schwierig wird.
Mutz-Humrich: Wahrscheinlich ist das Trinkverhalten schon vor Heiligabend aufgefallen, da würde ich es nicht direkt an den Feiertagen ansprechen. An Weihnachten besteht die Gefahr, dass das Gespräch eskaliert und derjenige erst recht trinkt. Trotzdem sollte nicht zu lange gewartet werden. Alkoholkrankheit führt zu schweren körperlichen Erkrankungen. Es kommt immer wieder vor, dass sogar bei Menschen, die erst über einen kurzen Zeitraum trinken, Leber, Nerven und Gehirn bereits stark geschädigt sind.
Mutz-Humrich: Ich würde nachhaken, ob der Alkoholkonsum auch anderen Familienmitgliedern aufgefallen ist und einen Gesprächstermin mit dem Alkoholkranken vereinbaren. Dann nicht mit der Moralkeule schwingen und von oben herab auf das Problem hinweisen. Angehörige sollten bei den eigenen Sorgen bleiben und auf Vorwürfe verzichten.
Das Gespräch sollte neutral, ehrlich und auf Augenhöhe sein. Es hilft, sich auf Fakten zu konzentrieren, zum Beispiel die Menge an Alkohol, die konsumiert wird. Und unbedingt Hilfestellen nennen, wie Suchtberatungsstellen oder Selbsthilfegruppen.
Mutz-Humrich: Fehlt die Einsicht des Betroffenen, sollten Angehörige sich selbst schützen und nach wiederholt vergeblichen Hilfeversuchen, auch die Verantwortung abgeben. Ich weiß, das ist schwer, weil die Person geliebt wird. Aber wenn Angehörige Abhängige zu lange und zu intensiv betreuen, dann helfen sie auf Dauer nicht, sondern unterstützen die Sucht. Alkoholkranke haben dann zu wenig Druck, etwas an ihrer Situation zu verändern. Sie müssen merken, dass sie für sich selbst verantwortlich sind.
Manchmal müssen Süchtige leider erst tief fallen, bevor sie verstehen. Eskaliert ein Gespräch, sollten Angehörige konsequent bleiben und notfalls die Wohnung verlassen.
Mutz-Humrich: Es gibt bei uns viele Abhängige, die gezielt über Weihnachten kommen wollen, um das Fest nicht daheim verbringen zu müssen. Aus der Akutpsychiatrie kann ich bestätigen, dass gerade um Weihnachten die Zahlen steigen. Während andere Einrichtungen ihre Operationen in dieser Zeit herunterfahren, ist bei uns und auf einer Akut-Suchtstation Hochsaison.
Mutz-Humrich: An den Feiertagen kann das Sorgentelefon kontaktiert werden. In Selbsthilfegruppen gibt es oftmals ein Patensystem und man kann den Paten anrufen. Braucht ein Abhängiger medizinische Hilfe, wird er in Vollversorger-Krankenhäusern versorgt und es gibt Psychiatrien mit Aufnahmepflicht in Notfällen, ebenso kann der Notarzt gerufen werden. Wenn Gewalt im Spiel ist, raten wir, die Polizei hinzuziehen.
Wir erarbeiten in unserer Klinik auch einen Notfallplan, damit alle wissen, was bei Suchtdruck zu tun ist und wohin Familien sich wenden können.
Mutz-Humrich: Für Angehörige ist das oft schwierig. Einige trinken heimlich, verstecken den Alkohol und sind nicht merkbar betrunken. Andere sind schon morgens deutlich betrunken und wieder andere trinken "nur" quartalsweise große Mengen. Körperlich nehmen Laien die Sucht relativ spät wahr. In der Regel altern Alkoholiker vor und bekommen eine fahle, gelbliche Hautfarbe.
Wer viel trinkt, kann Entzugserscheinungen bekommen, zittert und schwitzt morgens oder leidet unter Übelkeit. Alkoholkranke werden auch fahrlässiger, es passieren mehr Fehler. Weiterhin ist es auch an der berühmten "Fahne" erkennbar. Häufig kommt die Abhängigkeit erst dann raus, wenn die Polizei, den Führerschein wegnehmen muss, weil alkoholisiert gefahren wurde.