
Zwölftausendvierhundert. 12.400 Kilometer liegen zwischen seiner Heimat und der alten Pelznähmaschine, vor der Joel gerade sitzt. Er näht einen Sitzbezug zusammen. Hochwertiges, wärmendes Lammfell, damit es der Fahrer oder die Fahrerin vom Po bis zu den Schultern schön kuschelig hat im Auto.
Vollkommene Routine hat Joel noch nicht. Seine braunen Augen blicken konzentriert auf die Stelle, wo Nadel und Faden der Maschine ins Fell stechen, um die Teile des Bezugs miteinander zu verbinden. Der Bezug soll exakt passen. Die Nähte dürfen keinesfalls drücken, eine spezielle Nahttechnik sorgt dafür.
Noch ist alles neu hier für Joel in der Leder-Manufaktur Dittrich in Kleineibstadt. Aber Joel Alexander Hoyos Mateus aus Mosquera nahe der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá fühlt sich gut hier. "Heimweh habe ich keines. Ich vermisse hier nichts. Das hier ist jetzt mein Leben", sagt Joel und zeigt auf seinen Arbeitsplatz mit den Maschinen auf dem Tisch und den Fell- und Lederteilen rings um ihn herum.
Ausbildung zum Textil- und Modefertiger in Kleineibstadt
Das neue Leben in dem Grabfeld-Dorf hat am 1. September begonnen. Seitdem ist Joel Hoyos Auszubildender in der Ledermanufaktur Dittrich. Der kleine Betrieb mit acht Angestellten stellt hochwertige Bekleidung aus Lammfell und Leder her, aber auch wärmende Ansitz-Säcke für Jägerinnen und Jäger, Lederhosen – oder eben Auto-Sitzbezüge. In zwei Jahren, wenn Joel Hoyos Mateus seine Ausbildung zum Textil- und Modenäher hoffentlich abgeschlossen haben wird, dürfte der Kolumbianer all diese Produkte nähen können.

Joels Ehrgeiz ist groß. Und noch größer ist seine Leidenschaft für Felle und Leder und die Bearbeitung dieser Naturmaterialien. Das hat er schon in seiner kolumbianischen Heimat bewiesen. 15 Jahre war er dort als Schuhmacher tätig. Auch für sich selbst stellt er moderne Sneaker in bunten Farben am liebsten selbst her. Allerdings: Eine Ausbildung für seinen Beruf hat er nie gemacht.
Wenn der Chef den Azubi persönlich am Flughafen abholt
Die holt er nun quasi nach fast am anderen Ende der Weltkugel in der kleinen Grabfeld-Gemeinde. Sehr zur Freude von Geschäftsführer Harald Dittrich, der den Betrieb in dritter Generation führt. Höchstpersönlich hat er seinen Azubi vom Frankfurter Flughafen abgeholt. Zwölf Stunden hatte Joels Flugreise nach Deutschland gedauert.

Auf Joel Hoyos Mateus setzt Harald Dittrich viel. Denn wie so viele Branchen kämpft auch der Bekleidungshersteller mit einem Fachkräftemangel. "Unsere Näherinnen und Schneiderinnen kommen aus Serbien, wir haben eine rumänischstämmige Italienerin und eine Bekleidungstechnikerin aus Belarus", sagt der Firmenchef und lächelt. Mit Joel wird Harald Dittrichs Mitarbeitersuche nun sozusagen interkontinental.
Talent ohne richtige Ausbildung
Dafür hat Dittrich einige bürokratische Hürden überwinden müssen. Eineinhalb Jahre hat es gedauert, bis Joel Hoyos Mateus in Kleineibstadt seine Ausbildung beginnen konnte. "Im Februar 2023 hat mir ein Kunde von Joel erzählt, der bei ihm in Deutschland als Elektriker gearbeitet hatte", erzählt der Grabfelder Unternehmer. Richtig glücklich war der Kolumbianer mit seinem Elektriker-Job aber nicht. "Doch der Kunde erzählte von Joels Talent im Umgang mit Leder, das weckte mein Interesse", sagt Dittrich. Den Tipp mit Joel bekam Dittrich zwei Tage, bevor Joel wieder zurück nach Kolumbien fliegen musste. Wie ihn nun zurückholen?
"Das war das Problem. Denn Joel ist aus einem Drittland. Und einfach mal sagen 'Ich brauche den!' genügt da nicht", sagt Dittrich. Joel Hoyos Mateus benötigte ein Visum. Um als Schneider oder ähnlich Qualifizierter in Deutschland zu arbeiten, musste Dittrichs kolumbianischer Wunschkandidat allerdings eine Ausbildung nachweisen. Joel schaffte Dokumente bei. Doch die waren nur Nachweise seiner Fertigkeiten. "Ich habe Rücksprache mit der Auslands-IHK gehalten. Die einzige Möglichkeit war, Joel als Auszubildenden herzuholen", erzählt Firmenchef Dittrich.

Ein Ausbildungsbetrieb war die Leder-Manufaktur Dittrich noch nie. Für den Kolumbianer änderte sich das, die IHK Würzburg-Schweinfurt unterstützte bei der Erteilung der Ausbildungserlaubnis. Das war im Frühjahr 2024. Noch einmal vier Monate vergingen, bis Joel Hoyos Mateus sein Visum in Händen halten konnte. Der Schriftverkehr bis zum Botschafts-Termin in Bogotá konnte noch so digital laufen: Der Ausbildungsvertrag musste im Original und händisch vorgezeigt werden. Das kostete noch einige Tage.
Deutschlernen jetzt ganz wichtig
Seit dem 2. September lernt der Kolumbianer und Neu-Grabfelder in der Berufsschule Schweinfurt den Beruf des Textil- und Modenähers. "Ganz wichtig ist jetzt, dass er gut Deutsch lernt", sagt Harald Dittrich. Die Sprache seines Gastlandes spricht er durchaus schon passabel. Aber um für die Prüfungen in zwei Jahren gerüstet zu sein, muss er ordentlich pauken. Sogar an seinem Arbeitsplatz liegt ein Lehrbuch bereit, um sein Wissen und seine Sprachfertigkeiten zu vertiefen. "Das wird kein Spaziergang und bedeutet sehr viel Arbeit", weiß auch Harald Dittrich.
Eine kleine Wohnung hat Joel Hoyos Mateus in Bad Königshofen bezogen. Er fühlt sich wohl hier. Das etwas mildere Klima Rhön-Grabfelds gefällt ihm und er hofft, seinem Hobby Radfahren etwas nachgehen zu können. "Aber ich habe nicht viel Freizeit, ich muss für die Schule lernen", sagt der Kolumbianer, der mit seinen 38 Jahren noch einmal eine ganz andere Herausforderung sucht.

"Die wirtschaftliche Lage in Kolumbien ist schlecht. Hier habe ich nicht so viele Schwierigkeiten", sagt Joel Hoyos Mateus, der deutsche Vorfahren hat. Vom Grabfeld aus telefoniert er nun regelmäßig mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester, damit sie auf dem Laufenden sind über Joels Leben in Deutschland. "Mama ist fröhlich und stolz", sagt der kolumbianische Azubi.
Wenn alles gut läuft, wird auch Harald Dittrich in zwei Jahren fröhlich und stolz auf seinen Azubi Joel sein. "Es ist eine Chance für ihn und auch für mich".
Leder-Manufaktur Dittrich in Kleineibstadt
Jacken, Westen, Hosen oder Mäntel aus Schafsfell, Füßlinge, aber auch Hosenträger oder Gürtel gehören zum Angebot der Firma Dittrich. Mit acht Mitarbeiterinnen produziert Chef Harald Dittrich für den gesamten europäischen Markt. Das Unternehmen setzt dabei auf den Direktvertrieb.