
Mutter, wir müssen gehen!" Ein kurzer Satz nur, den Tatiana Malinina zu ihrer Mutter Alla Vazulia sprach. Er war richtig - und bedeutete doch den größten Schmerz im Leben von Mutter und Tochter. Die Bomben, die Raketen-Detonationen, das Ausharren in dunklen, kalten Luftschutzkellern. Putins Krieg war fast buchstäblich vor ihrer Haustüre angekommen. Tatiana und Alla mussten weg.
Der Kiewer Bezirk Obolon im Nordwesten der ukrainischen Hauptstadt war zu gefährlich geworden. Irgendwann konnten sie vom Fenster aus die russischen Soldaten sehen, die von Norden her in die Millionenstadt vordrangen. Es blieb nicht viel Zeit, um alles hinter sich zu lassen, was sie sich aufgebaut hatten. Tatianas Haustiere wurden zum Bruder gebracht. Von ihrem Freund Eugenyi musste sich Tatiana verabschieden. Zwei Taschen und ein kleiner Rucksack wurden gepackt. Das waren die wenigen Habseligkeiten für die Flucht aus dem Grauen.
Bombardierung in Kiew
"Ich wollte nicht, das ist doch meine Heimat. Jetzt ist mein Herz durchschnitten", sagt Alla Vazulia am Wohnzimmertisch von Evi Stamm-Wilm und Albrecht Wilm im Herschfelder Schäferweg. In den nach hinten gebundenen Haaren steckt eine knallrote Brille. Aus den großen Augen blicken Stolz und Stärke, auch wenn sie von den Tränen glasig sind. Auf dem Handy läuft ein Video, das die Bombardierung eines Kiewer Hauses zeigt. Hier wohnte ihre Tochter bis zur gemeinsamen Flucht.

"Wir sagen riesigen Dank an die Familie Wilm, dass sie uns aufgenommen haben", freut sich die ukrainische Mutter. Dass die drei Frauen hier in Herschfeld gelandet sind, ist kein Zufall. Noch im letzten Jahr pflegte Alla die Mutter von Evi Stamm-Wilm. Die Mutter war sehr zufrieden mit der ukrainischen Pflegekraft. "Wir waren wie eine Familie", sagt Alla. Auch nach dem Tod der Mutter blieb die Verbindung zwischen Herschfeld und Kiew am Leben.
Als am 24. Februar Putins Truppen in der Ukraine einmarschiert sind, hat Evi Stamm-Wilm sofort eine Nachricht nach Kiew geschickt. "Kommt doch zu uns", aber Alla Vazulia zögerte noch. Einen Tag später wurde die Hauptstadt angegriffen. Immer wieder mussten sie sich im Luftschutzkeller verstecken. "Ich hatte von da an immer eine Tasche bereitliegen mit dem Nötigsten und zwei Flaschen mit Wasser", erzählt Tatiana Maliniva. Wasser war wichtiger als alles Andere.
Am Abend des 26. Februar verließen sie Kiew. Mit dabei war Tatianas Freundin Katerina Fomina, die aus Saporischschja stammt. Ein Paar Schuhe, eine Tasche für jede. "Jeder Koffer ist Platz für einen Menschen", sagt Alla Vazulia. Es ist die Devise für alle ukrainischen Flüchtlinge. Dann begann die gefährliche Flucht Richtung Westen.
Mit dem Abendzug nach Lwiw
"Die Züge Richtung Polen waren an den Bahnsteigen nicht angeschrieben, irgendwo hing ein Zettel mit den Abfahrtszeiten. Tickets konnte man dafür keine kaufen", erklärt Tatiana. "Nehmen Sie uns mit, nehmen Sie uns bitte mit", flehte die Tochter am Bahnsteig. Irgendwann hat es geklappt. Sie durften einsteigen in den Abendzug nach Lwiw (Lemberg).
Vier Tage dauerte die Zugfahrt bis nach Bad Neustadt. "Wir mussten die ganze Zeit stehen. In unserem Abteil waren elf Personen, ausgelegt ist es für vier", erinnert sich die Tochter. Am dritten Tag konnten sie endlich etwas schlafen. "In Kattowitz haben wir etwas heißen Tee bekommen und eine Suppe", erzählt Alla. Die Hilfsbereitschaft vieler polnischer Freiwilliger, aber auch die der Deutschen hat alle Drei tief bewegt. Wenn Tatiana von den Gesten der Freundschaft erzählt, kullern Tränen der Rührung hinab.
Über Breslau nach Bad Neustadt
Breslau, Görlitz, Dresden, Erfurt: Am 1. März um 21 Uhr hatten die drei Frauen den Bahnhof von Bad Neustadt erreicht und wurden von Evi und Albrecht Wilm in die Arme genommen. Zurück in der Ukraine waren Allas Sohn Eugeniy geblieben und Tatianas Freund Victor. Sie helfen als Freiwillige an Verteidigungsposten in Kiew oder bei der Versorgung der Bevölkerung. Jeder Tag ist jetzt ein Tag voller Angst um die Männer, die zurückgeblieben sind in der Heimat.

"Ich bete zu Gott, dass ich meinen Sohn lebend wiedersehe", sagt Alla. Es schüttelt ihren Körper. Tochter Tatiana nimmt ihre Mutter in die Arme. Und auch Evi Stamm-Wilm drückt ihren Gast, der längst ein Teil der Familie ist. "Sie hatte so viel Geduld mit meiner Mutter. Wenn Alla ihre Hände streichelte, dann war sie beruhigt", erinnert sich die Herschfelderin an die Zeiten der Pflege. "Man muss Geduld haben mit den alten Menschen. Das ging, weil ich meine Arbeit mit Liebe gemacht habe", erzählt Alla. So furchtbar diese Tage auch sind: Die Familie Stamm-Wilm kann etwas zurückgeben. "Natürlich ist die Situation absolut bedrückend", sagt Evi Stamm-Wilm. "Aber ich kann jetzt besser schlafen, wo ich weiß, dass sie bei uns in Sicherheit sind", so die Heilpraktikerin für Psychotherapie.
Ein wenig Normalität soll in den Alltag in Herschfeld einziehen. "Die Tochter war schon bei der Herschfelder Laufrunde dabei", freut sich Albrecht Wilm, selbst aktiver Sportler. Und schon zweimal haben die ukrainischen Frauen an einer der Bad Neustädter Friedensdemonstrationen teilgenommen. Und an der Demo zum Weltfrauentag. Auch einen Gottesdienstbesuch gab es schon. Alla Vazulia kennt ja schon Herschfeld und Bad Neustadt und damit die deutsche Lebensweise aus ihrer Zeit als Pflegekraft. Kürzlich hat sie eine weitere Geflüchtete aus der Ukraine kennengelernt.
"Es ist schön zu sehen, dass auch Bekannte helfen, zum Beispiel durch Kleiderspenden", freut sich Evi Stamm-Wilm. "Ein Freund von mir hat unsere Fahrräder repariert, weil ich doch gerade sehr eingespannt bin", ist wiederum auch Albrecht Wilm dankbar für diese Form der Unterstützung.

Die 22-jährige Katerina und die 25-jährige Tatiana müssen ihr neues Umfeld noch erkunden. Sie sind das Leben in einer Großstadt gewohnt. Und die Arbeit für den Erfolg der jungen Republik Ukraine. Tatjana hat, bis der Krieg kam, als Risiko-Analystin in einem Kiewer IT-Untermehmen gearbeitet, ihre Freundin Katerina in der Personalabteilung einer Bank. Nun bangt Katerina um ihre Familie in Saporischschja mit ihren beiden zehn- und elfjährigen Brüdern. In der Nähe der Stadt steht Europas größtes Kernkraftwerk.
Was auf die Ukrainer und Ukrainerinnen zukommen würde, war spätestens mit der Annektierung der Krim zu erkennen. "Das war die große Enttäuschung. Jeder in der Ukraine hat praktisch Kindheitserinnerungen an einen Urlaub auf der Krim", sagt Tatiana Malinina. Doch dieser erste Einbruch russischer Gewalt sollte nicht der letzte sein.
Das furchtbare Geräusch der Luftangriffe
"Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich diese Geräusche einmal hören würde", sagt Tatiana. Der Lärm der Luftangriffe, die Explosionen, die Bombeneinschläge. Ihr geht die Frage nicht aus dem Kopf, wie viele Menschen seit dem 24. Februar in der Ukraine ihr Leben lassen mussten.
Tatiana liebt den Nationalfeiertag in der Ukraine am 24. August. Viele Menschen kleiden sich an diesem Tag in ukrainischer Tracht. "Es fließt ukrainisches Blut in uns, unsere Seelen sind ukrainisch". Dann fügt sie an: "Aber diese Seele ist zerbombt."
Die Rhön hilft der Ukraine
Wer zum Beispiel Wohnraum zur Verfügung stellen will, kann sich an das Landratsamt Rhön-Grabfeld unter der E-Mail ukrainehilfe@rhoen-grabfeld.de wenden.
An vielen Stellen gibt es auch Sammelaktionen. Detaillierte und aktuelle Informationen zum umfangreichen Hilfsangebot gibt es in einem Online-Artikel:
www.mainpost.de/10741015