
Als Angela Merkel 2015 in einer Bundespressekonferenz ihr berühmt gewordenes "Wir schaffen das" sagte, wusste Ahmad Hadi noch nicht, ob er es schaffen würde. Der junge Syrer war nach einer jahrelangen Flucht gerade bei Passau über die deutsche Grenze gekommen, seine Familie war noch im Irak. Heute leben Ahmad Hadi und seine Frau Fadea mit ihren Kindern in Mellrichstadt in der Rhön - in einem Anbau auf dem Grundstück jener Familie, die sich von Anfang an um sie und andere Flüchtlinge gekümmert hat.
Ahmad hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag, die siebenjährige Ailam kommt in die zweite Klasse. Die sechs und drei Jahre alten Söhne Ramman und Mohammed gehen in den Kindergarten und sprechen akzentfrei Deutsch. So gut will es ihre Mutter auch mal können - Fadea Hadi absolviert deshalb gerade ihren zweiten Intensivkurs.

"Wir haben alles richtig gemacht", sagt Ahmad Hadi heute zufrieden. Dessen konnte er sich nicht immer so sicher sein. Seine drei strahlend lachenden Kinder symbolisieren auch den weiten Weg in das neue Leben. Tochter Ailam wurde im Qamischli geboren, einer 200 000-Einwohner-Stadt im Dreiländereck Syrien, Türkei und Irak. Da die syrische Stadt mehrheitlich von Kurden bevölkert war, ist sie bis heute Frontstadt der Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen Milizen und Regierungstruppen.
Auch der Kurde Ahmad Hadi sollte in den Krieg ziehen - doch der junge Vater sah darin keinen Sinn. Außerdem, erzählt er heute, sei es für die Familie in Qamischli immer gefährlicher geworden. So beschlossen die Hadis noch 2012 mit ihrer gerade erst geborenen Tochter ins irakische Kurdengebiet zu fliehen.
Jedes Kind in einem anderen Land geboren
Im Irak kam Ramman zur Welt. Die Familie lebte in einem Zelt im Flüchtlingslager. Ahmad Hadi wollte im Irak sesshaft werden, suchte und fand Arbeit - und wurde immer wieder enttäuscht. Wochenlang habe er oft gearbeitet, aber keinen Lohn bekommen, erzählt er. Und wenn, dann weniger als vereinbart. Dabei brachte er viele handwerkliche Fähigkeiten mit, die er sich auf den Baustellen in Qamischli angeeignet hatte. Im Flüchtlingslager hörte er zum ersten Mal von syrischen Kurden, die nach Deutschland geflüchtet waren. Er informierte sich über Deutschland. Der Wunsch, dort seiner Familie eine bessere Zukunft bieten zu können, wuchs.

Als die Familie nach drei Jahren immer noch einem Zelt wohnen musste, beschloss der junge Vater erst einmal allein nach Deutschland zu fliehen. Seine Frau und die Kinder wollte er dann nachholen. So machte sich der Syrer in einem Flüchtlingstreck mit drei Dutzend anderen Flüchtlingen auf den Weg über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute nach Deutschland. Mal mit dem Bus, mal mit dem Schiff, "vor allem aber", erzählt er, "sind wir viel gelaufen". Er spricht nicht gerne über diese Zeit, vieles hat er vergessen oder verdrängt. In Serbien, sagt Hadi nur, seien sie in eine Kontrolle geraten und wären beinahe zurückgeschickt worden.
Nach fast vier Jahren auf der Flucht in Mellrichstadt gelandet
In Passau wurde er dann registriert. Hadi stellte seinen Asylantrag und wurde erst nach Aschaffenburg und dann in die Unterkunft nach Schweinfurt gebracht. Vor dort aus organisierte er die Flucht seiner Frau. Mit den beiden Kleinkindern machte sich Fadea Hadi auf den Weg. Auch sie musste mit einem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland übersetzen. Diese zwei Stunden, blickt sie zurück, werde sie nie vergessen. So groß waren Angst und Zweifel, es doch nicht zu schaffen.
Der jüngste Spross der Familie, Mohammad, wurde im Kreiskrankenhaus Bad Neustadt geboren. Nachdem Fadea mit Ailan und Ramman in Deutschland angekommen war, wurde die Familie in der Gemeinschaftsunterkunft Mellrichstadt zusammengeführt: "Wir hatten das Zimmer 101." Schnell lernten sie dort Christa Hein kennen. Die Mellrichstädterin und ihr Mann Gerhard hatten sich von Anfang an für die Flüchtlingshilfe engagiert und begleiteten Flüchtlingsfamilien zur Zweigstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BaMF) in Schweinfurt.
Großes Solidaritätsteam für die Flüchtlinge
Schon im Dezember 2014 hatte der damalige Mellrichstädter Bürgermeister Eberhard Streit die Bevölkerung eingeladen, um über den Umbau der alten Berufsschule in eine Gemeinschaftsunterkunft zu informieren. Es bildete sich ein Solidaritätsteam um Marianne Fritz, noch heute von ihren Mitstreitern in der Flüchtlingshilfe Mellrichstadt liebevoll die "Obermächerin" genannt. "Fast 100 Leute waren wir am Anfang", erzählt Marianne Fritz und fügt lachend hinzu: "Die haben sich dann alle auf die ersten drei Familien gestürzt, die 2015 kamen". Fünf Jahre später sind noch 20 Mellrichstädter im Solidaritätsteam dabei und helfen vor allem bei der Hausaufgabenbetreuung der sesshaft gewordenen Flüchtlingskinder.

Beim ersten Treffen war Christa Hein noch nicht dabei. Ihre Mutter war gestorben, "da hatte ich grad andere Sorgen". Im Nachlass aber fand sie Dankesbriefe aus Südtirol, die an ihre Großmutter gerichtet waren. Christa Hein wurde neugierig und las, dass ihre Großmutter einst einer Südtiroler Familie geholfen hatte, die es in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in die Rhön verschlagen hatte. Gerührt von der Hilfsbereitschaft ihrer Großmutter und im Wissen, dass auch das Haus ihrer Mutter in Mellrichstadt immer ein offenes gewesen war, wollte Hein etwas weitergeben.
Sie schloss sich dem von Anfang an gut organisierten Solidaritätsteam für die Flüchtlinge an. Es gab Gruppen mit unterschiedlichen Aufgaben: ein Begrüßungsteam, Fahrdienste vor allem nach Schweinfurt zur BaMF, Lehrer kümmerten sich um die Hausaufgabenbetreuung. Man half beim Ausfüllen der Formulare, kümmerte sich um die Gesundheit der Flüchtlinge, organisierte Möbel und Gebrauchsgegenstände.
Nur wenige Vorbehalte auf dem Land
"In der ganzen Rhön haben wir Nähmaschinen und Stoffreste gesammelt, aus denen wir mit den Frauen für sich und deren Kinder Kleider nähen konnten", erzählt die "Obermächerin" Marianne Fritz. Sogar eine Ausstellung der Kleidungsstücke habe es gegeben. Überhaupt sei der Kontakt und Austausch zwischen Flüchtlingen und Einheimischen immer wichtig gewesen. So gab es Begegnungscafés und Nachmittage der Begegnung.
Nein, sagt Fritz, Vorbehalte habe es in der Rhön nur wenige gegeben. Gelegentlich sei sie gefragt worden, für wen sie das denn alles mache? "Na für Dich! ", habe sie stets geantwortet. "Wenn uns gelingt, die Flüchtlinge hier zu integrieren, haben wir alle was davon." Zeitweise seien über 100 Flüchtlinge in der Mellrichstädter Gemeinschaftsunterkunft gewesen, sagt Christa Hein. "Ohne uns Ehrenamtlichen hätten die nicht gut betreut werden können."

Als der Asylantrag von Ahmad Hadi und seiner Familie im Jahr 2017 anerkannt wurde und sie die Gemeinschaftsunterkunft verlassen mussten, bot Christa Hein ihnen die Wohnung in ihrem Anbau an, die gerade frei wurde. Auf dem Areal am Rande der Innenstadt mit zwei Häusern, Anbauten, Schuppen und Scheunen leben die Hadis jetzt zusammen mit den Heins, ihrem Sohn Georg und seiner Frau Anne und der kleinen Greta. Sie machen zusammen Ausflüge, teilen sich den großen Garten, Ahmed kümmert sich um die Hühner. Und nicht nur das: "Wenn ich auf dem Grundstück irgend etwas mache, kommt er sofort und fragt, ob er helfen könne", berichtet Gerhard Hein.
Die großen Ziele der Familie Hadi
Christa Hein kann nicht verstehen, dass es viele Flüchtlinge in die großen Städte zieht. Hier auf dem Land werde ihnen viel mehr geholfen. Hier könnten sie mit ihrem Verdienst, der am Anfang selten über dem Mindestlohn liege, mehr anfangen und würden besser integriert. So seien einige Familien, die aus Mellrichstadt in eine Großstadt zogen, inzwischen wieder zurückgekommen.
Auch Ahmads Bruder und Schwester haben Syrien verlassen und leben heute in Wien und Leipzig. Ahmad und Fadea wollten trotzdem in Mellrichstadt bleiben. Sie nennen es ihre zweite Heimat. Und sie haben ein großes Ziel: eingebürgert und Deutsche zu werden, um sich irgendwann in der Rhön ein eigenes Häuschen kaufen und renovieren zu können.
Nur seine Eltern, die im Irak sesshaft geworden sind, vermisse er sehr, sagt Ahmad Hadi. Leider seien derzeit keine Besuche möglich. Aber sonst sei in Deutschland alles besser. Selbst der Bürokratie, an der seine Helfer vom Solidaritätsteam oft fast verzweifelten, kann er etwas Positives abgewinnen. Er habe zum ersten Mal in seinem Leben einen Arbeitsvertrag, das gebe Sicherheit. Das einzige, was ihm an Deutschland nicht so gefällt: das Essen. Klöße, Sauerkraut, Rotkohl - Ahmad Haid schüttelt den Kopf. Da ziehe er die heimische Küche vor.
Dann verschwinden er und seine Frau - um kurz darauf mit reichgedeckten Tafeln und Tellern zurück zu kommen. Fadea hat gebacken, sehr süß, viel Kokos, sehr lecker. "Heute ist Zuckerfest", schmunzelt Ahmad Hadi. Den ersten Tag nach dem Fastenmonat feiern viele kurdische Familien mit ganz viel Süßigkeiten. "Sie geben uns so viel zurück", sagt Marianne Fritz. Sie sei nun auch nicht mehr die Jüngste. Und als die Corona-Pandemie losging, hätten als erstes Flüchtlinge gefragt, ob sie für sie Einkaufen gehen sollen.
