Ja, die Liebe. Sie kann ganz schön in die Knochen gehen. Und Jahrzehnte brauchen, bis sie sich erfüllt wie ein altes Versprechen. Irgendwann im Jahre 1968 nahm Hansgeorg nicht den letzten Bus ins Rhönstädtchen Bischofsheim, sondern den letzten Zug von Fulda, um länger bei seiner Claudia Henriette sein zu können. Also stand er abends am Bahnhof von Gersfeld im Hessischen und nahm den Marsch auf sich: den schweißtreibenden Berg hoch zur Schwedenschanze, und dann hinunter über Oberweißenbrunn und Frankenheim nach Hause. Zwölf knochenharte Kilometer, gut drei Stunden Fußmarsch.
Hansgeorg Weis: "Ich habe halt immer zu wenig geredet"
"Warum hast Du mir das damals nicht erzählt?", fragt Claudia Henriette ihren Hansgeorg 55 Jahre später im gemeinsamen Wohnzimmer in Bischofsheim. Auf Sofalehne und Wohnzimmerschrank sind Dutzende kleiner Teddybären drapiert. Der Tisch ist überladen von Blumenkränzen, Geschenkkörben, Weinpräsenten und zig Glückwunschkarten. Wenn man erst mit 71 heiratet, freut sich erst recht alle Welt mit dem frischvermählten Paar.
"Ich weiß nicht, warum ich es nicht erzählt habe", sagt Hansgeorg. "Ich habe halt immer zu wenig geredet." Womöglich liegt hier des Rätsels Lösung, warum das mit der Liebe bei ihnen mehr Zeit brauchte als bei anderen. Claudia Henriette sagt, sie wäre vom Marsch jedenfalls gewiss beeindruckt gewesen. Damals, als beide jung waren.
Nur einige wenige Stunden für die Zweisamkeit
Schon mit 14 Jahren hatte es gefunkt. Die Gleichaltrigen waren Schüler der Handelsschule in Fulda. Im Frühjahr 1967 flatterten erstmals die Schmetterlinge zwischen dem Mädchen aus Fulda und dem jungen Mann aus der Rhön. Bis Mittag paukten sie im Klassenzimmer, dann blieben zwei Stunden für Zweisamkeit. "Die Buslinie von Fulda nach Coburg war um 14.30 Uhr immer die letzte Verbindung nach Bischofsheim für mich", erzählt Hansgeorg Weis. Kaum Zeit also für den einen oder anderen Kuss, für Liebesgeflüster.
Zu wenig vielleicht. Nach einem Vierteljahr war erst einmal Schluss. Doch mit dem Frühjahr 1968 kamen neue Frühlingsgefühle. Claudia Henriette und Hansgeorg wurden wieder ein Paar. Mit gemeinsamen Stunden in Fulda, einem unvergessenen Spaziergang auf den Kalvarienberg und Plänen für ein gemeinsames Leben. Ein Foto vom Klassenausflug zum Rhönhäuschen zeigt: Es hätte schon damals schön werden können. Wurde es aber erst einmal nicht.
Wieder nach einem Vierteljahr war die Sache zu Ende. "Jeder dachte vom anderen, er habe kein Interesse mehr. Es ist so. Wir haben zu wenig geredet", sagt Hansgeorg. Das Schuljahr ging zu Ende und jeder ging seines Weges. Ein paar Mal fragte Hansgeorg seine Freunde aus Fulda noch nach Claudia Henriette. Und erfuhr, dass seine erste Liebe mit 18 Jahren geheiratet hatte.
"Ich habe erst bei der Stadt Fulda gearbeitet, dann im gehobenen Dienst in Wiesbaden", erzählt Claudia Henriette. Am Zungenschlag ist zu hören: Den großen Teil ihres Lebens hat sie im Rheingau verbracht.
Dass Claudia Henriette geheiratet hatte, war für Hansgeorg ein Schock
"Dass sie geheiratet hatte, war ein Schock für mich", sagt Hansgeorg. Aber das Leben ging weiter. Es wurde ein anderes. Für 57 Jahre. Der Bischofsheimer arbeitete als Großhandelskaufmann in Bad Neustadt und Bischofsheim, studierte in Würzburg BWL. Und fand eine Partnerin. "Als ich meine erste Frau kennenlernte, lag sie in meinem Bett", sagt Hansgeorg Weis. Die Mutter in Bischofsheim hatte das Jugendzimmer ihres Sohnes vermietet - an seine Zukünftige.
So entspann sich ein neuer Lebensfaden. Der Bischofsheimer machte Karriere bei Lever Sunlicht in Schwäbisch Hall und bei der BayWa in Würzburg. Ging nach Heidenheim und Zirndorf und war zuletzt selbstständiger Handelsvertreter für Alten- und Pflegeheim-Einrichtungen. Zwei Kinder zog er mit seiner Frau groß. Tochter Andrea Michaela, 1982 geboren, und Sohn Christian Matthias, der 1991 zur Welt kam.
Hansgeorg Weis wäre fast an einem Herzinfarkt gestorben
Dann, am 30. Dezember 1999: der erste Herzinfarkt. "Ich weiß nichts mehr davon. Aber ich bin wohl eine halbe Stunde reanimiert worden", erzählt der Rhöner. Zwei Jahre später ein zweiter Herzinfarkt, da war er erst 47. "Tja, seitdem bin ich Rentner."
2013 starb Weis' Frau völlig unerwartet an einem Aneurysma. Die Kinder zogen aus, der Witwer war plötzlich allein in seiner Zirndorfer Wohnung. "An einem einsamen Silvester 2015 beschloss ich, mir wieder eine Frau zu suchen", erzählt Weis. "Ich habe es auch mit Parship probiert und es gab zwei Treffen, aber die Richtige war nicht dabei."
Parship-Versuche und eine verräterische E-Mail
So fasste der Witwer den Entschluss, wieder Kontakt zu seiner Jugendliebe aufzunehmen, über einen alten Schulfreund hatte er die Kontaktdaten bekommen. "Ich hatte mich immer mal gefragt, was aus Claudia wohl geworden ist", sagt Hansgeorg. Also schrieb er Claudia Henriette eine E-Mail. "Ich habe ihr unter dem Pseudonym Jack Alexander geschrieben. Aber ich habe übersehen, dass meine E-Mail-Adresse natürlich meinen echten Namen enthielt", sagt Hansgeorg und lacht. "Ich habe ihn natürlich erkannt. Und sofort waren wieder diese Schmetterlinge im Bauch", erzählt Claudia Henriette und lacht auch.
Im September 2016 gab es das erste Treffen in Hochheim am Main. Mit viel Herzklopfen, aber auch der Ansage, dass Claudia Henriette bei ihrem Mann im Rheingau bleiben wollte. Als dieser wenig später starb, konnten die Lebensfäden der beiden endgültig einen Knoten bilden.
2018 zogen die Zwei im Bischofsheimer Elternhaus von Hansgeorg Weis zusammen. Zum Hausstand gehört Fido, eine rumänische Straßenhündin. Und es gibt den überbordenden Fundus an Plüschbären, die Sammelleidenschaft von Claudia Henriette. 2019 wurde standesamtlich geheiratet. Erst verzögerte der Urlaub des Pfarrers die kirchliche Trauung, dann kamen die Corona-Jahre. Erst Ende Juni 2023 war es nun so weit und der katholische Pfarrer Manfred Endres traute das Paar. "Gottes Segen ist uns wichtig", sagt die Frischverheiratete.
Und was hat das Eheleben bisher an Liebenswertem oder Gewöhnungsbedürftigem offenbart? "Er ist sehr oft unpünktlich. Aber er hält immer zu mir", sagt die Ehefrau und wirft augenzwinkernd ein "Gell, Schatzi?" hinterher. "Sie schläft oft schon, wenn ich wie immer spät ins Bett gehe. Sie sucht dann im Halbschlaf immer den Kontakt zu mir, das liebe ich an ihr", schwärmt der Ehemann.
Jetzt kommen erst mal die Flitterwochen: "Wir haben uns ein Wohnmobil gemietet. Damit geht es nach Kürten bei Köln, dort heiratet mein Sohn einen Tag später", freut sich Hansgeorg Weis auf ein kleines Abenteuer.
Hat man noch Wünsche, wenn die Geschichte mit der ersten Liebe nach 57 Jahren so ein schönes Ende gefunden hat? "Wir wollen, dass uns der Herrgott noch viele Jahre miteinander gibt. Hier in der Rhön und in Bischofsheim ist es ja wunderschön!", sagt Ehefrau Weis. "Und ja, ein Ziel haben wir: Wir wollen Silberhochzeit feiern", fügt sie an. Gut möglich, wer den Weg ihrer Liebe kennt.