Was für eine Veranstaltung! Jeden letzten Dienstag im Monat strömen im Schnitt 160 Frauen und Männer aus der Rhön und aus dem Grabfeld in die Festhalle nach Heustreu: Paare, Cliquen, Alleinstehende. Ein 87-Jähriger knattert mit dem Motorrad an, ein 68-Jähriger strampelt bei Wind und Wetter mit dem Rad aus dem 54 Kilometer entfernten hessischen Wüstensachen ins Streutal. Ihr aller Ziel: der BRK-Seniorentanz. Wo der Blick auf die Füß' wichtiger ist als der ins Dekolleté und Verwitwete und Einsame mitunter die späte Liebe finden. Ein Besuch bei Tanzbegeisterten.
Um 14 Uhr wird Alleinunterhalter Herbert Dressel die ersten Takte auf der Bühne spielen, ab 13 Uhr füllen sich die Parkbuchten. Tuschelnd wie Teenies kichern drei Damen jenseits der 60 von ausgefallenen Hörgeräten. Gertrud Krause und Rosi Schindler kassieren derweil Eintritte. "Man muss schon zu zweit sein", erklären die Ehrenamtlichen des BRK, "denn Zeit haben die Tänzer ja nicht."
Der Heustreuer Seniorentanz ist eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte. Entstanden ist der Tanztreff 1985 aus der Seniorengymnastikgruppe von Helga Roos. "Seit der Pandemie ist die Resonanz noch mal größer geworden", sagt Petra Fuchs. Die 61-Jährige leitet beim BRK-Kreisverband die Sozialarbeit und ist inzwischen für die Veranstaltung zuständig. "Ich sag' Ihnen eins: Die Leute wollen tanzen!"
Dann sagt vorerst keiner mehr etwas. "Die Zeit mit dir, sie dürfte nie vergehen!", singt stattdessen Alleinunterhalter Herbert. Zeit zu verlieren, hat niemand in Heustreu: Bei den ersten Klängen stürmen Tänzerinnen und Tänzer zahlreich die Fläche. "Was für eine Freude da ist!", der Anblick der vielen Mittänzer ergreift Helga und Dietmar Schmalz aus Schönau immer wieder aufs Neue. Der Discofox sei nur der Anfang. "Der Marschwalzer ist begehrt." Besonders aber sei der Twist.
Passion auf dem Parkett: von der Tanzschule zum Tanztreff
"Das hier macht einfach Spaß!", die Ehepartner Schmalz sind Tänzer aus Leidenschaft, über zehn Jahre besuchten sie eine Tanzschule. Weil sie außerdem über viele Jahre die pflegebedürftige Mutter beziehungsweise Schwiegermutter versorgten, kam ein Tanznachmittag-Besuch lange nicht infrage. Erst nach deren Tod konnten sie tagsüber wieder außer Haus. Über die Zeitung seien sie dann auf den Tanztreff – sie vermeiden augenzwinkernd den Ausdruck Seniorentanz – aufmerksam geworden.
"So geht das bei uns zu!", so beschwingt wie der 77-jährige Ludwig Niemec mit seiner Frau Willma im Arm vorbeitänzelt, spricht er auch. Zum 60. Geburtstag waren die beiden erstmals in Heustreu. "Heimwärts haben wir so gelacht, weil es so schön war", erzählt Ludwig Niemec. "Seither ist das unser gemeinsamer Sport", ergänzt seine Frau, bevor sie tanzend in der Menge verschwinden.
"La vita é bella, das Leben ist schön, la vita é bella, komm lass es nie vergehn", singt derweil Alleinunterhalter Herbert. "Tanzen hält fit", ist BRK-Koordinatorin Petra Fuchs überzeugt. Die Bewegung lasse neue Nervenzellen entstehen, was Demenz vorbeuge. "Früher oder später wird der Eintritt hier von der Krankenkasse bezahlt", schmunzelt sie.
Die älteste Tänzerin dieses Dienstags ist mit 90 Jahren Anni Edgü, die Jüngste Andrea Ewald mit 56 Jahren. Das Küken des Saales aber ist Lucas Troibner, der 19-Jährige bedient. Die Musik, gesteht er, sei gewöhnungsbedürftig, aber die Senioren hätten "viel zu erzählen". Faszinierend findet er, "in welchem Tempo die besser tanzen als ich". "Wer gerne tanzt, kann nicht früh genug anfangen", sagt Andrea Ewald und blickt bewundernd zur Saal-Ältesten Edgü.
"Ihre Türkin" nennen die Heustreuer Tanzbegeisterten ihre Alterspräsidentin liebevoll. Dabei kommt Anni Edgü ursprünglich aus Sonneberg. "Aber ich war überall auf der Welt." Mit ihrem Arzt-Ehemann habe sie lange im Orient gelebt, ihre drei Kinder in Anatolien geboren. Der Tanztreff sei genau das Richtige für sie. "Ich war schon immer sehr lebendig." Nach Heustreu komme sie, "um lachende Leute, schöne Frauen und bunte Kleider zu sehen".
Tanzen wie damals in Paris – was Senioren nach Heustreu führt
Tanzen, tanzen, tanzen – wie damals in Paris – will ein 87-Jähriger. Gut, notfalls redet er auch kurz. Darüber, dass er "alles tanzt, was kommt". Wie er auch das Leben genommen habe, wie's kam. 25 Jahre habe er seine Ehefrau nach einer Hirnblutung gepflegt. Vor zwei Jahren sei sie gestorben. Ebenfalls zwei Jahre ist es her, dass er schweren Herzens seine 57er Honda verkaufte. "Die ging ab wie die Sucht. Aber irgendwann holt mich der Teufel." Seither fährt er mit einem kleineren Motorrad nach Heustreu.
Edgar Röder reist ebenfalls ungewöhnlich an: Bei Wind und Wetter strampelt der 68-Jährige mit dem E-Bike aus dem 54 Kilometer entfernten Wüstensachsen ins Streutal. "Für Geist und Seele gibt es nichts Besseres als das Tanzen. Das hält jung und man lernt Leute kennen." Eventuell auch eine Partnerin? "Man spekuliert schon", gesteht Röder. Aber weil Liebe passiere, wenn man nicht daran denke, schaue er beim Tanz mehr nach den Füßen als nach dem Dekolleté. "Das eine ist reizvoller, das andere wichtiger", witzelt er.
Tatsächlich kann Heustreu in Sachen späte Liebe Erfolge vorweisen. Die Frisch-Liierten Monika Jakab und Albrecht Nöth sind da, so erzählt man sich, nur eines von vielen Beispielen. "Ich habe schon länger jemanden gesucht, sie aber eigentlich nicht", berichtet der Bad Brückenauer am Rande der Tanzfläche von ihren Anfängen als Liebespaar. Vor drei Monaten hätten sie in der Festhalle das erste Mal miteinander getanzt, ein paar Mal gleich, dabei Sympathie empfunden. "Dann hat sie mich noch von dort drüben angelächelt." Die Dinge nahmen ihren Lauf, kürzlich verbrachten sie ihre erste gemeinsame Urlaubswoche in Füssing. Aktueller kann späte Liebe in Heustreu wohl nicht sein.
Auch Hugo Grünewald kennt sich mit dem Thema Partnersuche aus: "Du kannst neun Minuten verschwenden oder nicht!", spielt der inzwischen Über-70-Jährige auf die übliche Drei-Lieder-Runde an, für die man in der Regel zum Tanz auffordert. Seine Zeit hat er vor 53 Jahren offenbar gut angelegt, als er gezielt seine heutige Ehefrau Marianne im Alter von gerade mal 15 Jahren beim Tanz in Großwenkheim hofierte.
Schlaflose Nächte bereite er ihr noch heute, berichtet er stolz. Seit dem 50. Geburtstag brächten sie sich nämlich im Selbststudium über DVDs und YouTube besondere Tanzschritte bei. Trainiert werde im heimischen Wohnzimmer. "Wir haben schon eine Stunde den gleichen Bewegungsablauf geübt." Mit Erfolg. Auf der Tanzfläche in Heustreu fallen die Grünewalds auf, wenn sie ihr Tanzbein schwingen, bis die Sohle glüht. Immer wieder dienstags.