
Nandus, Enten, Hühner, Gänse, Hasen, Esel, Hund, Pferd und weitere Tiere bevölkern den Hof von Manuela und Roland Seidenzahl in Rhön-Grabfeld. Dazu gibt es viel Platz und eine angenehme Ruhe – vom Schnattern und Wiehern, Gackern und Bellen der Tiere mal abgesehen. Idyllisch und Bullerbü-artig klingt es im ersten Moment, wenn man hört, dass Kinder und Jugendliche dort "Urlaub auf dem Bauernhof" machen.
Und doch hat ihr Aufenthalt einen ernsten Hintergrund: Die Seidenzahls sind seit 2009 Bereitschaftspflegeeltern. Sie geben Mädchen und Jungen vorübergehend ein Zuhause, wenn ihre leiblichen Eltern gerade nicht selbst für sie sorgen können. Es sind Kinder und Jugendliche, die ein "Paket", wie es Laura Keller vom Amt für Jugend und Familie Rhön-Grabfeld nennt, mit sich herumtragen. Das können Vernachlässigung, Misshandlung oder andere schlimme Erfahrungen sein.
"Aktuell haben wir im Landkreis acht Bereitschaftspflegefamilien, von denen zwei mit Vollzeit-Pflegekindern belegt sind. Die anderen sechs Familien sind gut ausgelastet", sagt Keller, die sich um die Vermittlung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien kümmert. Momentan gebe es genug Pflegeplätze, auch wenn sich das schnell ändern könne.
Schon über kleine Dinge freuen sich viele Pflegekinder
Wer das Haus von Familie Seidenzahl betritt, sieht sofort, dass dort Leben herrscht: Am Tisch in der gemütlichen Wohnküche mit dem bollernden Kachelofen ist Platz für viele Menschen. An den Wänden und an den Türen hängen Fotos, bunte Kinderzeichnungen und Sprüche wie "Unsere Familie ist genau die richtige Mischung aus Liebe und Chaos". Hier können Kinder Teil eines Familienlebens sein, das sie sonst vielleicht nur aus dem Fernsehen oder gar nicht kennen.
"Einmal hat mich ein Pflegekind gefragt: 'Kartoffeln, was ist das? Meine Mama hat immer Dosen aufgemacht, alles in den Topf getan und das haben wir dann gegessen", erzählt Manuela Seidenzahl. Oft reichten schon kleine Dinge, um Kinder mit schwierigen Hintergründen sehr glücklich zu machen. "Wenn man Weihnachten etwas Schönes ins Zimmer hängt. Oder die Kinder zum Beispiel mit in den Tierpark nimmt. Sie fragen dann oft ganz überrascht: 'Was, ich darf mit? Die leuchtenden Augen reichen schon, um zu wissen, warum man sich um diese Kinder kümmert'", so Seidenzahl.
Schöne Momente überwiegen, doch es gibt auch Herausforderungen
Die schönen Momente würden überwiegen. Doch Seidenzahl verschweigt auch die Herausforderungen nicht, die der Alltag als Pflegefamilie mit sich bringt. Wenn die Kinder zu ihnen in die Bereitschaftspflege kommen, wissen sie je nach Alter meist schon, dass sie dort nicht auf Dauer bleiben können. Ob es danach zurück zur Herkunftsfamilie, in eine Jugendhilfeeinrichtung oder eine Dauerpflegefamilie geht, müssen aber erst Jugendamt und gegebenenfalls das Familiengericht klären.

"Dieses in der Luft hängen ist schwierig. Den Frust darüber kriegen wir als Pflegefamilie ab. Manche Kinder werden aggressiv, zerstören Gegenstände, verletzen andere oder sich selbst. Sie schlagen zum Beispiel ihren Kopf gegen die Wand. Oder sind einfach traurig", sagt Seidenzahl. Weil die Pflegekinder in ihren Herkunftsfamilien oft andere Grenzen erlebt hätten als in der Pflegefamilie, würden sie häufig austesten, wie weit sie die Regeln ausreizen können.
70 Pflegekinder lebten bisher bei Familie Seidenzahl
Trotzdem: Bereut hat Manuela Seidenzahl, die mit ihrem Mann Roland fünf eigene Kinder zwischen 20 und 34 Jahren hat, die Entscheidung, Bereitschaftspflegemutter zu werden, nie. "Die ganze Familie stand von Anfang an dahinter und hilft bis heute mit. Sonst würde es nicht gehen", ist Manuela Seidenzahl überzeugt. "Mein Mann sagt immer: 'Du kannst nicht alle retten.' Aber ein bisschen helfen vielleicht schon, hoffe ich", beschreibt Manuela Seidenzahl ihre Motivation. Bisher haben die Seidenzahls rund 70 Kindern ein Zuhause auf Zeit gegeben.
Die Kinder oder Jugendlichen, die in ihre Familie kommen – vom zwei Tage alten Baby bis zum 16-Jährigen war altersmäßig schon alles vertreten– bleiben manchmal nur wenige Tage oder Wochen, es waren aber auch schon einmal 17 Monate. Das sei immer abhängig davon, wann geklärt ist, wie es für die Mädchen und Jungen weiter geht. "Oberstes Ziel ist , dass die Kinder wieder zurück in ihre Ursprungsfamilie können. Häufig klappt das aber nicht", sagt Laura Keller vom Jugendamt.
Dann müssen die Kinder von der Bereitschafts- in eine Dauerpflegefamilie oder eine Einrichtung der Jugendhilfe ziehen. Das Jugendamts-Team tauscht sich regelmäßig mit Herkunfts- und Pflegefamilie aus. Außerdem begleitet es die Kontakte der Kinder mit ihrer Herkunftsfamilie. Diese sind laut Keller wichtig für beide Seiten. Aber sie würden die Mädchen und Jungen oft tagelang aufwühlen, hat Manuela Seidenzahl erlebt. Aufgabe der Pflegefamilie ist es, die Kinder wieder aufzufangen.
Abschiede von Kindern und Jugendlichen fallen der Pflegemutter schwer
Weil die Pflegekinder bei den Seidenzahls wie die leiblichen "mitlaufen" und nicht gesondert behandelt werden, sind sie schnell ein Teil der Familie. Sie helfen bei den Tieren und im Haushalt mit und müssen sich an Regeln halten, wie die eigenen Kinder der Seidenzahls.
Wie schwer fällt es, wenn ein Kind wieder gehen muss? "Das ist schlimm, selbst wenn es noch so schwierig mit ihm oder ihr war", so Manuela Seidenzahl. Man merkt, dass ihr dieses emotionale Thema nahe geht, sie kämpft mit den Tränen. Sie müsse dann in dem Zimmer, in dem der Bub oder das Mädchen gewohnt hat, immer gleich alle Spielsachen und andere Gegenstände, die sie mit dem Kind in Verbindung bringt, wegräumen, erzählt sie.
"Danach denke ich meist ungefähr eine Woche lang: So, jetzt machst du mal nur was für dich. Dann kommt mir der Gedanke: Ach, jetzt könnte die Frau Keller wieder mal anrufen. Aber eigentlich ist es ja gut, wenn sie nicht anruft, dann können die Kinder zuhause bei ihren Eltern bleiben", sagt Manuela Seidenzahl.