Sie gibt Menschen ihre Wurzeln zurück: Elisabeth Böhrer aus Sondheim wurde im Berliner Abgeordnetenhaus mit dem Obermayer German Jewish History Award ausgezeichnet, weil sie dazu beiträgt, die Geschichte der Landjuden in Unterfranken zu bewahren. Böhrer arbeitet ehrenamtlich. Sie schreibt Beiträge über jüdisches Leben und jüdische Geschichte in der Zeit vor dem Holocaust bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, sie betreut Ortschroniken, erstellt Stammbäume für die Nachfahren derer, die in den Vernichtungslagern des Dritten Reichs ermordet wurden, und sie begleitet Juden, die auf der Suche nach ihren Wurzeln in den Raum Schweinfurt oder nach Rhön-Grabfeld kommen. Mit ihnen besucht die 65-Jährige die Häuser der Vorfahren, macht die Grabstellen der Familien auf Friedhöfen ausfindig und erstellt Stammbäume.
Wer hat Sie für den Preis vorgeschlagen?
Liza Steinberger aus den USA, Saar Cohen-Ronen aus Neuseeland und Dana-Leigh Strauss aus Großbritannien waren die Hauptnominierenden. Dana-Leigh's Vorfahren stammen aus Obbach und Wüstensachsen. Sie kam seinerzeit nach Obbach. Sie hatte nichts, außer den Namen ihres Opas und Ur-Opas. Und sie wusste, dass ihre Urgroßeltern deportiert wurden. Dana-Leigh wurde an mich verwiesen und ich konnte ihr bei der Ahnenforschung weiterhelfen. Jetzt hat sie Urkunden, einen Stammbaum. Manches konnte sie sich selbst besorgen, manches habe ich ausfindig gemacht. Aus diesem Kontakt hat sich eine schöne Beziehung entwickelt.
Wie kamen Sie dazu, sich mit der Geschichte des unterfränkischen Landjudentums zu beschäftigen?
Ich habe 1988 bis 1989 eine Ausbildung zur Gästeführerin in Schweinfurt gemacht. 1991 war ich eine von drei Gästeführerinnen, die ehemalige jüdische Bürger, die zur 1200-Jahr-Feier der Stadt Schweinfurt eingeladen worden waren, betreuen und begleiten durfte. Das war damals mein erster Kontakt mit jüdischen Menschen. Ab dem Moment hatte ich eine Verbindung zu ihnen. Das war etwas sehr Persönliches für mich. Ich stehe heute noch in Kontakt mit vielen dieser Menschen, beispielsweise mit einer 90-Jährigen. Ihr Mann war Schweinfurter und sie war aus Mainstockheim. Wir telefonieren immer noch jede Woche.
Ihre Nachforschungen haben ergeben, dass die Vorfahren vieler prominente Juden ihre Wurzeln in Unterfranken haben. Auf welche Funde sind sie besonders stolz?
Einer von ihnen war Joseph Sachs. Sein Sohn Samuel war ein berühmter amerikanischer Investment-Banker und gab Goldmann Sachs seinen Namen. Er stammt aus Rödelmaier, starb in Bad Kissingen während eines Kuraufenthalts und ist begraben in Kleinbardorf. Und dann noch Charlotte Knobloch. Der Großvater, Urgroßvater und der Ururgroßvater (dokumentiert 1786) der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden stammen aus Kleineibstadt. Eine besondere Ehre war es mir, den Stammbaum für einen Nobelpreisträger zu erstellen: Jack Steinberger. Er wurde 1988 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Ich konnte die Familie bis ins Jahr 1755 zurückverfolgen.
Liza (Elizabeth Steinberger), Jack Steinbergers Nichte, deren Großvater von 1892 bis 1937 Kantor in Bad Kissingen war, sagt über Ihre Arbeit: "Was sie nicht weiß, ist wahrscheinlich nicht dokumentiert." Wie schwierig sind Ihre Recherchen?
Es kommt auf die Quellen an. Die liegen im Bundesarchiv Berlin, im Staatsarchiv Würzburg und in den einzelnen Gemeinden. Und dann gibt es noch das Zentralarchiv in Jerusalem. Die Unterlagen zahlreicher unterfränkischer jüdischer Kultusgemeinden kamen in den 1950er-Jahren nach Israel und werden jetzt in Jerusalem gelagert. Ich muss die Dokumente auf der Homepage des Zentralarchivs suchen und kann diese dann gegen eine Gebühr herunterladen.
Was macht die Recherche besonders schwierig?
Meine Nachforschungen werden dadurch erschwert, dass die Juden in der Region bis vor 200 Jahren keine Familiennamen verwendeten, sondern nur den "Vatersnamen", so dass sich die Namen mit jeder Generation änderten. Erst 1811, als die bayerische Regierung die Dorfpfarrer zur Erfassung jüdischer Geburten, Eheschließungen und Sterbedaten verpflichtete, wurden klare Familiendaten verfügbar.
Sie sind bekannt dafür, dass sie sehr akribisch recherchieren. Sie brüten über Urkunden, vergleichen anhand von Listen Schreibweisen und Jahreszahlen. Warum ist dieser Aufwand so wichtig?
Die Fakten müssen einfach stimmen, das ist ganz, ganz wichtig . Wenn ein Heimatforscher Fakten in seiner Chronik veröffentlicht, die nicht fundiert recherchiert sind, dann übernehmen andere diese falschen Informationen. Forschung muss korrekt sein, denn sie ist die Basis für weitere Recherchen. Denn, was dreimal falsch geschrieben ist, wird irgendwann als richtig wahrgenommen.
Juden aus allen Teilen der Welt bitten Sie auf der Spurensuche nach ihren Ahnen um Unterstützung. Warum ist die Ahnenforschung für diese Menschen so wichtig?
Meistens beginnen diese Leute nach der Pensionierung mit der Ahnenforschung. Sie sind mit der Geschichte und den Geschichten ihre Vorfahren aufgewachsen, die sie nie kennenlernen durften. Also machen sie sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Mittlerweile kommen schon die Enkel nach Unterfranken, um die Orte zu besuchen, in denen ihre Vorfahren gelebt haben. Ich habe allein für Stadt und Landkreis Schweinfurt für heuer schon drei Anfragen für Besuche, die ich zeitlich unterbringen muss. Ein weiterer stammt aus Mainstockheim, auch für diese Nachfahrin habe ich schon alle Unterlagen zusammen.
Sie haben die Namen und Schicksale von 1500 fränkischen Juden bis 1945 recherchiert. Wie reagieren die Menschen, wenn Sie ihnen die Grabstätten ihrer Vorfahren zeigen?
Sehr ergreifend. Ich zeige den Grabstein und ziehe mich dann zurück und gebe den Menschen Zeit. Sie beten meistens das Kaddisch, eines der wichtigsten Gebete im Judentum. Ich merke, sie sind dankbar. Es tut ihnen unendlich gut, dass sie wissen, dass sich jemand um sie kümmert. Die Friedhöfe sind wichtige Orte des Gedenkens. Deshalb würde ich mir wünschen, dass alle Grabsteine gereinigt, fotografiert, professionell übersetzt und im Internet veröffentlicht werden. In Memmelsdorf in Unterfranken, einem Ortsteil von Untermerzbach, ist das vorbildlich geschehen. Im Landkreis Rhön-Grabfeld wurde begonnen, die Grabsteine einzelner Ortschaften zu fotografieren und ins Netz zu stellen. Die großen, alten Friedhöfe fehlen da noch, denn die Inschriften sind größtenteils ausschließlich in hebräisch abgefasst. Das wäre ein Projekt, das ich mir für Unterfranken auch wünschen würde. Zwei Synagogen liegen mir noch am Herzen: Bei Kleineibstadt ist geplant, aber noch nicht beschlossen, dass sie ins Freilandmuseum Fladungen transloziert wird. Und die leer stehende in Oberelsbach wartet seit über zehn Jahren darauf, einer sinnvollen Nutzung zugeführt zu werden.
Wie reagieren ihre Mitbürger auf Ihr Engagement?
Die Leute finden mich ein bisschen exotisch. Sie verstehen nicht, warum ich das tue. Sie protestieren nicht dagegen, aber sie haben auch kein Verständnis dafür. Doch die Menschen, für die ich das tue, die lassen mich ihre tiefe Dankbarkeit spüren.
Wie haben Sie die Preisverleihung im Berliner Abgeordnetenhaus erlebt?
Sehr bewegend und ein wenig stressig. Die Preisträger sollten ihre Projekte in einer fünfminütigen Präsentation vorstellen. Erst in Berlin habe ich erfahren, dass die Zeit für die Dolmetscher von diesen fünf Minuten abgeht. Also habe ich gekürzt. Als das alles vorbereitet war, war ich auch nicht mehr aufgeregt. Es hat sehr gut geklappt, es war alles wunderbar.
Empfinden Sie den Preis als Dank für Ihre ehrenamtliche Arbeit oder als Ansporn für weitere Recherchen?
Beides. Der Award ist schließlich die höchste Auszeichnung für Menschen, die jüdische Geschichte ehrenamtlich erforschen. Die Obermayer Foundation möchte, dass die Ehrenamtlichen sich mehr vernetzen. Wir Unterfranken sind das schon. Aber deutschlandweit, da geht noch was.
Ist das Preisgeld schon verplant?
Ja. Auf dem Friedhof von Neustädtles liegen ein Kindergrabstein und Marmorplatten, auf denen die Schrift abgeplatzt ist. Die lasse ich jetzt renovieren.