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Sulzfeld
Ein Jahr Ukraine-Russland-Krieg: Wie eine Ukrainerin mit ihren Kindern in Sulzfeld das Leben meistert
Putins brutaler Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat nicht nur viele Menschen getötet. Sondern er hat auch Familien zerrissen.
Die Ukrainerin Olga Korniienko lebt mit ihren beiden Kindern Roxy und Markus sowie ihrem Vater, der nicht mit aufs Bild wollte, bei Renate Ertl (Zweite von links) in Sulzfeld, die hier Enkelin Romy auf dem Schoß hat. 
Foto: Michael Petzold | Die Ukrainerin Olga Korniienko lebt mit ihren beiden Kindern Roxy und Markus sowie ihrem Vater, der nicht mit aufs Bild wollte, bei Renate Ertl (Zweite von links) in Sulzfeld, die hier Enkelin Romy auf dem Schoß ...
Michael Petzold
 |  aktualisiert: 09.02.2024 00:09 Uhr

45 Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine leben derzeit in Sulzfeld im Grabfeld. Wie so viele Frauen musste auch Olga Korniienko am 24. Februar vergangenen Jahres Hals über Kopf vor dem Überfall der russischen Truppen, der sich am Freitag jährt, aus dem Land fliehen, während die wehrfähigen Männer bleiben mussten.

Für die Mutter zweier Kinder begann der Exodus mit einer regelrechten Irrfahrt, wie sie im Gespräch mit dieser Redaktion erzählt. Die Ukrainerin spricht zwar etwas Deutsch und besucht derzeit auch einen Sprachkurs, die Kenntnisse reichen aber noch nicht aus, um eine tiefgreifendere Unterhaltung zu führen. Mithilfe eines Übersetzungsdienstes im Internet funktioniert die Verständigung dennoch ganz gut.        

Am 24. Februar 2022 frühs um 6 Uhr begann die Flucht aus Kiew

"Früh um 6 Uhr sind wir aus Kiew mit dem Auto losgefahren, ich wusste zunächst gar nicht, was hier genau passiert, es gab noch keine Nachrichten", erinnert sich die 39 Jahre alte Journalistin, die vor ihrer Flucht gut fünf Jahre für die Internetzeitung "Big Kiyw" über die kommunalpolitischen Geschehnisse in der Hauptstadt Kiew und dem Umland berichtet hatte. Detonationen hat sie selbst  nicht wahrgenommen. Ein zusätzliches Problem war, dass ihre 12 Jahre alte Tochter Roxy und ihr ein Jahr jüngerer Bruder Markus (so der Nickname des Jungen) zu dieser Zeit im 500 Kilometer entfernten Nikopol bei den Großeltern zu Besuch waren.      

Über Rumänien ging die Reise zunächst bis nach Norditalien 

Weil eine Fahrt dorthin mit dem Auto viel zu gefährlich erschien, mussten sie auf einen Evakuierungszug warten. Begleitet wurden die Kinder von ihrem 73 Jahre alten Großvater Volodymyr, die Großmutter wollte nicht mitkommen. Wegen heftigen Beschusses musste der Zug dann fünf Stunden auf freiem Feld ausharren, bis sie schließlich am Treffpunkt in der Region Czernowitz im Oblast Tscherniwzi ankamen. Von dort aus ging es über die Grenze nach Rumänien und erst nach Norditalien in einen kleinen Ort in der Lombardei, wo eine Schwester von Olga Korniienko wohnt.  

Renate Ertl in Sulzfeld stellte eine Wohnung für die vierköpfige Familie zur Verfügung 

Kaum angekommen, erkrankten der Vater und die Tochter an Corona, was eine dreiwöchige Quarantäne zur Folge hatte. Auch in der Lombarbei blieb die Familie nicht lange. Nach Sulzfeld gelangte sie schließlich über einen Kontakt zu Olena Rutts, die am 5. März mit dem vom Landkreis gecharterten Bus angekommen war.

Dass sie dem Rat der Bekannten gefolgt war, am 4. April in die gut 1700 Einwohner zählende Gemeinde im Grabfeld zu kommen, hat sie nicht bereut. Untergekommen ist sie mit ihren beiden Kindern und dem Vater sowie einer zweiten Familie bei Renate Ertl, die früher einen ambulanten Pflegedienst mit Tagesbetreuung betrieben hat und über ein dementsprechend großes Platzangebot verfügt.        

An das ruhigere Tempo in Sulzfeld musste sich die Familie erst gewöhnen

Gerade die erste Zeit war für die agile Ukrainerin nicht einfach. Am meisten vermisste sie neben den Verwandten und ihrem Mann, der bei einer Hilfsorganisation arbeitet, das sehr hohe Lebenstempo zu Hause. "In Kiew musste ich ständig rennen und was erledigen", sagt sie. Sie habe sich erst an die ruhigere Gangart hier gewöhnen müssen. Ihr Nervensystem habe sich lange dagegen gewehrt, jetzt gehe es aber deutlich besser.

Im Laufe der Unterhaltung wird aber auch deutlich, dass das hektische Tempo in ihrer Heimat vor allem im Streben nach einem höheren Lebensstandard liegt, der nicht so einfach zu erreichen sei, wie sie sagt. Auch sie engagiert sich im Internet mit Artikeln und Werbebotschaften für eine große ukrainische Hilfsorganisation, die sich um Militärangehörige kümmert.

Die Bürokratie in Deutschland findet Olga Korniienko gar nicht so schlimm

Weniger genervt als mancher Deutsche ist Olga Korniienko von der Bürokratie hierzulande. "Es gibt klare Regeln", sagt sie. Wenn man in der Ukraine lebe, habe man mehr Stresssituationen. Anfänglich empfand sie es aber als unnatürlich, sich nicht selbst um alles kümmern zu müssen. 

Obwohl die Frau mehrere Ausbildungszertifikate unter anderem auch im Designbereich besitzt, ist sie doch sehr froh, bei der Firma Ress in Bad Königshofen für einige Stunden in der Woche eine Arbeit als Reinemachefrau gefunden zu haben, um sich wenigstens einen kleinen Teil des Lebensunterhaltes zu verdienen. Ihr Vater ist ebenfalls von dieser Unruhe gepackt, die auch von der großen Dankbarkeit gespeist wird, die die Ukrainer gegenüber ihren Gastgebern empfinden. Er trägt Holz rein, fegt den Hof und hilft, wo er nur kann, zeigt sich Renate Ertl begeistert.

Olga Korniienko ist eine tapfere und taffe Frau, die ihr Herz nicht unbedingt auf der Zunge trägt. Nur einmal verliert sie ein wenig die Fassung, als sie erklärt, wie gut sie hier in Sulzfeld behandelt werde. "Das müssen Sie unbedingt schreiben", betont sie.              

Auch für die beiden Kinder hat sich viel geändert, obwohl sie sich  – wie die meisten jungen Leute –beim Erlernen der Sprache leichter tun als Erwachsene. Während hier um 13 Uhr meistens die Realschule endet, besuchten sie in Kiew Einrichtungen, die dem Begriff Ganztagesschule im wahrsten Sinne des Wortes gerecht werden.

"Meine Kinder waren um 8 Uhr aus dem Haus und abends wieder zurück", sagt die Mutter. Wer sechsmal in der Woche täglich zwei Stunden Sport getrieben hat, wie Markus und Roxy, dem fehlt hier natürlich etwas. Auch hier hilft ein wenig das Internet. Roxy nimmt online am Singunterricht ihrer Schule in der Ukraine teil, die noch andere Hausaufgaben in anderen Fächern vergibt.         

Raketeneinschlag: Die Kinder hatten noch nicht einmal Zeit, sich zu fürchten

Am 1. Januar war Olga Korniienko kurz zurück in Kiew, weil ihr erster Mann die Kinder vermisst hatte und sie bei dieser Gelegenheit das Familienauto mit nach Deutschland nehmen wollte. Beim Treffen in einem Café detonierte 200 Meter weiter eine russische Rakete. "Das ging so schnell, dass die Kinder nicht einmal Zeit hatten, sich zu fürchten", sagt sie. Zum Glück sind alle unverletzt geblieben. Zurück in die Ukraine will sie nach Ende des Krieges auf alle Fälle wieder, um beim Aufbau ihres Landes zu helfen. Für die Kinder sei eine Zukunft in Deutschland möglicherweise aber der bessere Weg.     

 
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