Die jungen, ungestümen Gefangenen waren manchmal wie Vögel, erzählt der frühere Bad Neustädter Vollzugsbeamte Erhard Kümpel aus Salz: "Fängt man einen Vogel und tut ihn in einen Käfig, flattert er anfangs hin und her –und fügt sich dann."
21 Jahre lang arbeitete der heute 81-jährige Kümpel im Bad Neustädter Gefängnis – 14 Mal länger als seine Häftlinge im Höchstfall einsaßen. 18 Monate war die reguläre Maximal-Freiheitsstrafe in Bad Neustadt. Einzelne Gefangene wollten ihre – oft gar nicht allzu ferne – Entlassung nicht abwarten und versuchten vorher zu türmen. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.
Wie jener drahtige Kerl, "der im Hof aus dem Stand heraus einen Salto rückwärts konnte". Dessen Ausbruchsgeschichte erzählt der frühere Vollzugsbeamte fesselnd wie kein Zweiter: Eines sonnigen Vatertags war's, als Kümpel gemeinsam mit einem Kollegen den Feiertagsdienst versah. Während er selbst im Gebäude das Abendessen für die rund 80 Gefangenen portionierte, schob sein Kollege im Innenhof beim Hofgang Wache – bis drinnen das Telefon klingelte.
Wilde Verfolgungsjagd durch Bad Neustadts Hohntor: Mit dem Drahtesel auf Gefangenenverfolgung
Ein kurzer, unbeaufsichtigter Moment nur, aber besagte Sports-Kanone kletterte bereits behände in der rechten Innenhof-Ecke die Wand hinauf, minimale Wandvorsprünge nutzend. Als Kümpel aufmerksam wurde, balancierte der Türmende bereits auf dem Dach Richtung Straße. "Der hüpft", riefen Mit-Gefangene. Während sein Kollege die Stellung hielt, rannte Kümpel vor die JVA, der Häftling hangelte sich gerade am Blitzableiter hinab. Eine wilde Verfolgungsjagd schloss sich an: Zu Fuß ging's die Bauerngasse hinunter, durchs Hohntor hindurch.
"Damals war ich 40 Jahre alt, da konnte ich noch springen, aber der auch!", erzählt der 81-Jährige noch heute atemlos. Rechts oder links? "Jetzt wird's interessant: jetzt kommt mein Nachbar." Kümpel stoppte seinen Freund, der zufällig angeradelt kam: "Lubber, hast du einen gsehn, der gerennt ist?" Lubber hatte niemanden gesehen. Für die weitere Gefangenenverfolgung konfiszierte Kümpel dennoch das Fahrrad.
Wo sich der Mann, der Salto rückwärts konnte, versteckte
Leider war der Drahtesel ein "alter Kracher", wie Kümpel auf Höhe der evangelischen Kirche feststellen musste: "Auf einmal bricht mir der Sattel weg. Jetzt hatt' ich mit dem Fahrrad zu tun und mach' doch eigentlich Gefangenenverfolgung." Schnappen konnte Kümpel den Flüchtigen an diesem Tag nicht mehr.
"Zwei, drei Tage später ist er von sich aus wiedergekommen", erinnert sich Kümpel. Der Gefangene habe nicht gewusst, wohin. Dem Beamten gestand er: "Ich hab Sie gesehen, ich war am Friedhof unterm Busch gelegen."
Weshalb derartige Fluchtgeschichten Kümpel so fesseln? Ein Stück weit ward ihm das Thema Flucht in den Kinderwagen gelegt. Während des Zweiten Weltkriegs, "Papa war im Krieg", war er mit der Mutter zunächst bei den Großeltern väterlicherseits in Schweinfurt untergebracht. Bis sie ausgebombt wurden.
Bereits dem Kleinkind Erhard Kümpel ward das Thema Flucht in den Kinderwagen gelegt
Mit Kinderwagen und Koffer evakuierte man Mutter und Kleinkind damals nach Salz bei Bad Neustadt. Die erste Sälzerin, die ihnen auf Geheiß des Bürgermeisters Unterschlupf gewähren sollte, schlug widerwillig ihre Tür ins Schloss. Mit der Zeit kamen Mutter und Sohn trotzdem an, 1948 auch der aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Vater. Fort aus Salz zog es Erhard Kümpel fortan nie mehr.
Nur einmal im Leben kehrte er einer Sache noch konsequent den Rücken: 1973 war das, als er den gelernten Beruf des Drehers und Fräsers bei Preh zugunsten einer Ausbildung zum Vollzugsbeamten aufgab –er habe schon immer gern "zum Staat" gewollt.
Ausbruchsfest: Wie Vollzugsbeamte und Bad Neustädter Bürger das Ende der JVA begingen
"Jetzt bin ich auch eingesperrt", dachte er, als sich an seinem ersten Arbeitstag das Gitter hinter ihm schloss. Dem ersten Impuls abzuhauen, gab Kümpel nicht nach. Im Gegenteil: 1975 wurde er nach seiner Ausbildung in Ebrach an die JVA Bad Neustadt versetzt und blieb dort bis zu deren Schließung im Jahr 1996 eingesetzt.
Seine Ausbruchsgeschichten erzählt Kümpel heute mit Sicherheit nicht weniger anschaulich als beim Ausbruchsfest im Sommer 1996, als Bürger erstmals nach der Schließung der JVA Zugang zum Fronhof hatten.
Zum Besten gab er damals vor Publikum mit Sicherheit auch den Fluchtversuch aus Zelle 26, den ein aufmerksamer Nachbarsjunge vereitelte. Das kam so: Drei Insassen von Zelle 26 entfremdeten – über einen längeren Zeitraum – ihr Essensbesteck, mit dem sie Sand und Kalk aus dem Mauerwerk einer Außenmauer kratzten. Erstaunlich erfolgreich: "Wenn da mal der Anfang gemacht ist, fällt das andere von alleine nach."
Wie ein Nachbarsbub den spektakulären Ausbruchsversuch aus Zelle 26 vereitelte
Als an einer Stelle der Durchbruch gelang, wurden ihre Aktivitäten von einem Jungen im gegenüberliegenden Gebäude bemerkt. "Guckt mal, da ist irgendwas!", nach diesem Anruf eilte Kümpel schnurstracks in Zelle 26. "Von innen hatten die schon ein Mordsloch gemacht." Weil die Häftlinge immer wieder einen Schrank vor die betroffene Wand gerückt hatten, war es unentdeckt geblieben. Die herausgebrochenen Steine hatten sie in ihrer Toilette gestapelt.
Da die JVA voll belegt war, mussten die Insassen fortan mit aufgeklappten Notbetten auf andere Zellen verteilt werden. "Dann ist wieder zugemauert worden", weiß Kümpel. Ganz akkurat wurde der in der Außenmauer fehlende Bruchstein aber nicht wieder eingesetzt. Noch heute kann man von außen die ausgebesserte Stelle rechts des Gefängnistores unter dem Fenster erkennen.
Im Sportsaal durchs Fenster: Von einem, der nie mehr gesehen ward
Der Ausbruchsgeschichten sind damit noch lange nicht alle erzählt: Kümpel erinnert sich außerdem an einen Häftling, der in eine dreckige Mülltonne stieg, weil er hoffte, mit der Müllabfuhr nach draußen zu gelangen. Gelegentlich brachte ein Lastwagen Lieferungen in den Gefängisinnenhof. Einmal habe sich ein Häftling auch darunter geklemmt: "Den hätte es zerbröselt, wenn wir ihn nicht gefunden hätten." Ein anderes Mal lag einer auf der LKW-Plane. Dumm, dass die Sonne schien und man seinen Schatten sah.
Aus einer an den Sportsaal angrenzenden Toilette im historischen Dachstuhl büxte, so Kümpel, ein Insasse durchs Fenster aus. Über die Dachrinne und eine Straßenlaterne habe er sich auf ein parkendes Auto gehangelt. "Von dem hat man nie mehr was gehört. Entweder er ist umgekommen, oder er hat's geschafft." Es ist eine der Bad Neustädter Fluchtgeschichten mit offenem Ende.