Er bellt ohne Unterlass. Hund Lasse ist aufgeregt. Die beiden Journalisten im Wohnzimmer der Villa Abendsonne in Kleieibstadt behagen ihm nicht. Deren Interesse für Lamm Coco noch viel weniger. Nur zwei Hände voll, wollig weich und kuschelig steht es mitten im Raum. Etwas über zwei Wochen schon lebt das Kamerun-Schäfchen bei Tierbestatterin Nina Folle und ihren tierischen Mitbewohnern im Tierhospiz Villa Abendsonne.
Frohgemut hüpft Coco zwischen Sofalandschaft und Küchenzeile durch die Wohnung. Einen Zwinger gibt es auf dem Hof in Kleineibstadt nicht. "Sie ist doch ein Baby!" Coco kuschelt sich auf Nina Folles Schoß auf der Couch, das Fläschchen Ziegenmilch ist verdrückt, die Neugeborenen-Windel gewechselt, es duftet nach Räucherstäbchen in der Wohnung. Schläfrig schließt das Lamm die Augen.
Nina Folles Lebensweg: Krankenschwester, Lehrerin, Tierbestatterin
"Wenn du hörst, wie sie weint, wenn sie nachts nicht schlafen kann", das Tier allein in einem Stall unterzubringen, war für die 40-jährige Nina Folle, die aus Bad Kissingen stammt und zunächst als Krankenschwester auf einer Intensivstation, später als Lehrerin in einer Förderschule gearbeitet hat, keine Option.
Tiere waren schon immer Folles große Leidenschaft. Der Tod ihres "Seelenhundes Duke" habe 2019 den Ausschlag gegeben, ihre Zukunft neu zu denken. Im April 2020 machte sie sich als Tierbestatterin unter dem Namen "Engel auf Reisen" selbstständig. Noch im selben Jahr gründete sie den Verein "Villa Abendsonne", involvierte Bau- und Veterinäramt ins Projekt. Auf ihrem Hof in Kleineibstadt finden seither alte, kranke oder gehandicapte Tiere, hauptsächlich Hunde, Katzen und Pferde, ein letztes Zuhause.
Coco ist Teil der Familie in der Villa Abendsonne in Kleineibstadt
Tiere wie Lasse. Der etwa zehnjährige Jagdhund habe über Jahre in Italien unter widrigsten Umständen in einem Wald-Verschlag gelebt, berichtet Nina Folle. Seinen Lebensabend darf er nun in Rhön-Grabfeld verbringen. Mit im Gepäck beim Umzug war Lasses tief sitzende Angst. Die ihn alles Fremde anbellen lässt. Nur Lämmchen Coco nicht. Das darf sogar in sein Körbchen und neben ihn aufs Sofa. Für Hund Lasse ist Coco längst Teil der Familie.
Dabei ist das Lamm gar kein offizieller Bewohner der Villa Abendsonne. Der Hospizhof ist nämlich eigentlich nur für Haustiere konzipiert. Als vor drei Wochen der Hilferuf ein Lamm betreffend per Telefon kam, konnte Folle Hoftür und Herz allerdings nicht lange verschlossen halten. Nicht als Verein, sondern als Privatperson nahm sie sich dann des Lämmchens an.
Der entscheidende Anruf und wie Nina Folle reagierte
Dabei hat sie zunächst nein gesagt, als Yoga-Freundin und Tierärztin Lena Kempker bei ihr anklingelte. Ob sie sich vorstellen könne, ein vier Tage altes Lamm mit der Flasche aufzuziehen? "Nicht noch mehr Arbeit, hat der Verstand gesagt." Obwohl sie sich Bedenkzeit erbat, wusste sie, das Tier würde kommen dürfen. Zumal es ihr ihre relativ flexiblen Arbeitszeiten als Tierbestatterin und Sterbe- und Trauerberaterin für Tiere und deren Halter ermöglichten, die zeitintensive Pflege eines neugeborenen Tieres zu übernehmen.
Nina Folle rekonstruiert Cocos Geschichte: Die Schafsmutter hatte das Lamm wohl direkt nach der Geburt nicht angenommen. Der Schäfer, so erzählte man ihr, wollte der Natur ihren Lauf lassen. "Wer weiß, wie elendig ein hungriges Schaf weint, kann verstehen, weshalb eine Bekannte Kempkers das Tier zu sich nahm." Zwei Tage lang versorgte diese das Lamm – nebst ihrem eigenen Menschenbaby. Mensch- und Tiersäugling zusammen waren aber letztlich nicht unter einen Hut zu bringen. Weshalb dringend ein neues Zuhause für das Tier her musste: die Villa Abendsonne.
So kam das Lämmchen zu seinem Namen
Die Hauptperson eines Romans, den Nina Folle gerade las, er handelte von einem hochsensiblen Mädchen, trug den Namen Coco. Für Folle war sofort klar: Nichts passt besser zu dem verletzlichen Tierkind als dieser Name.
Alle zwei Stunden hat Nina Folle Coco anfangs mit Ziegenmilch gefüttert. Inzwischen sind die Abstände, zumindest nachts, etwas länger. Zumal Coco auch schon Heu, Zweige und Blätter zum Knabbern bekommt. Es hat außerdem einen Salz- und Mineralleckstein. Nach wie vor allerdings schläft Folle in einem Raum mit dem Lamm. Das hat sie längst als Mutter-Ersatz akzeptiert und folgt ihr auf Schritt und Tritt.
Sind sie im Freien nahe des Teiches unterwegs und Folle beispielsweise aufs Ausmisten des Stalles fokussiert, fährt das Lamm in einem Hundebuggy mit. Der gehört eigentlich dem herzkranken Hund Joe, dem bei längeren Spaziergängen im Sommer schon mal die Kraft schwindet. Derzeit nutzt ihn Folle für Coco, um sicherzustellen, dass die nicht versehentlich ins Wasser stürzt.
Die Sorgen der ersten Tage: Hat Coco Kolostralmilch erhalten?
Eine von Folles ersten Recherche-Versuchen nach Ankunft des Tieres: Hat das Lamm direkt nach der Geburt die überlebenswichtige Kolostralmilch erhalten? "Ohne hat es keine Überlebenschance und kann nach drei, vier Wochen einfach tot umfallen", so Folle. Letztlich ließ sich dieser entscheidende Punkt nicht endgültig klären.
Von einem befreundeten Bauern im Ort erhielt sie Schafskolostrum und fütterte sicherheitshalber noch einmal – auch wenn der sensible Zeitpunkt dafür längst verstrichen war. "Denn schaden kann es nicht." Inzwischen, hofft sie, ist die kritische Zeit überstanden. "Coco ist quietschfidel." Nina Folle geht davon aus: Alles wird gut und ihr Lämmchen leben.
Wobei sich direkt mit dem Aufatmen die Frage nach Cocos Zukunft stellte: "Ich konnte mir nicht vorstellen, es aufzupäppeln und dann eines Tages wieder in die Herde des Schäfers zurückzugeben." Für 25 Euro habe sie es letztlich erwerben können.
Wie könnte Cocos Zukunft aussehen?
Drei bis vier Monate müsse das Tier voraussichtlich Milch aus der Flasche bekommen. Inzwischen hat Nina Folle bei Bad Königshofen eine Herde mit Ziegen und Kamerun-Schafen gefunden, die es im Anschluss eventuell aufnehmen könnten. "Dort lebt sogar ein anderes Kamerun-Lamm, gerade acht Wochen alt."
Ihr Zwiespalt: "Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Übergang?" Denn je länger das Tier ohne Artgenossen lebt, desto schwieriger wird die Integration in eine Herde. Zumal Coco mit jedem Tag, die sie bleibt, der Tierliebhaberin mehr ans Herz wächst. Noch dazu lebt Coco bei Nina Folle in erster Linie mit in der beheizten Wohnung. Die Jahreszeit sei für das Projekt Auswildern einfach nicht gerade ideal. Folle ist trotzdem überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war, Coco zu sich zu holen: "Die Alternative für Coco wäre es in dem Moment gewesen, in ihrer Herde zu bleiben und zu verhungern."
Eingewöhnung in ihrer künftigen Herde bei Bad Königshofen
Ihr Plan: Schon bald werde sie mit Coco zu der zukünftigen Herde fahren. "Dann darf sie ihre neue Familie kennenlernen." Das werde dann zeitlich immer mehr gesteigert, bis das Tier dann Ende Januar hoffentlich keine Milch mehr braucht und ganz dort bleiben kann. "Eingewöhnung sozusagen", schmunzelt Nina Folle. Man sieht ihr an: Das Loslassen wird ihr nicht leicht fallen.
Auch in die entgegengesetzte Richtung hat sich Folle schon erlaubt zu denken. Coco auf dem Hof in Kleineibstadt behalten, weitere Artgenossen, etwa das andere Kamerun-Lämmchen, dazukaufen? Die Tierliebhaberin schmunzelt. "Der Verstand sagt nein. Der Platz, die Arbeit..."