Gemütlich ist es im Zimmer von Adolf Dietzel im Casa Reha in Bad Neustadt: Ein bequemer Sessel, bunte Grüße der Urenkelinnen an den Wänden und vom Balkon aus eine grandiose Fernsicht bis in die Rhön. "Und wenn ich Hilfe brauch', drück' ich meinen Knopf und dann kommt jemand", erzählt der 95-Jährige. Dabei wirkt er zufrieden und versucht nicht daran zu denken, dass er vielleicht bald aus dem Haus am Kurpark Bad Neustadt, wie das Heim offiziell heißt, ausziehen muss. Denn die Korian-Gruppe, die die Einrichtung betreibt, hat angekündigt, sie Ende des Jahres zu schließen.
Dann würden die Bewohnerinnen und Bewohner ihr Zuhause, ihre Gewohnheiten und im schlimmsten Fall gar den regelmäßigen Kontakt zu Verwandten, Freunden oder Bekannten verlieren. Wie erlebt Adolf Dietzels Sohn allgemein die Stimmung im Haus? "Der Tenor ist: 'Wir lassen uns nicht kleinkriegen, wir lassen es nicht aneinander und nicht an den Bewohnern aus'", sagt Norbert Dietzel. "Es ist ja eine ganz klare Sache, dass die Entscheidung extern getroffen wurde. Niemand in diesem Haus hat sie getroffen oder gewollt", fügt er hinzu.
Adolf Dietzel zog mit 88 Jahren nach Bad Neustadt
"Mein Vater verdrängt, dass das Haus geschlossen werden soll. Er lagert es an mich aus, sich zu kümmern. Das ist eigentlich eine gesunde Haltung", so Norbert Dietzel. Sein Vater sagt nur: "Ich möchte gerne da bleiben, außer wenn es gar nicht anders möglich ist". Dann erzählt er lieber wieder von seinem langen Leben, seinen Enkeln und Urenkelinnen und davon, wie gut es ihm im Heim gefällt, in dem er seit drei Monaten wohnt.
Von seinem Balkon aus kann er bis zum Bad Neustädter Hohntor, zur Schlosskirche und bis in die Rhön blicken. "Ich fühl' mich wohl und hab' einen wunderbaren Raum. Vorm Einschlafen scheint die Sonne bis auf mein Bett", erzählt der 95-Jährige, der erst mit 88 Jahren aus seiner Heimat Burgkunstadt nach Bad Neustadt in eine Wohnung in der Nähe seines Sohnes zog. Mit 92 fuhr er noch Auto, unternahm Ausflüge in die Rhön, für ein Essen mit Preiselbeeren zur Thüringer Hütte oder zur "Windbeutel-Gräfin".
Adolf Dietzel war als Sänger in der Gartenstadt geschätzt
Am liebsten schaut Adolf Dietzel Sportsendungen, weil - er beginnt zu flüstern - "Ich nicht mehr so viel verstehe, die reden alle so schnell. Beim Sport muss man nichts verstehen". Der Gesang ist eine seiner großen Leidenschaften, in seiner Heimat fungierte er 48 Jahre lang als Chorleiter. Als guter Tenor war Dietzel bei den Sängern in der Gartenstadt geschätzt. Zum Beweis unterbricht er plötzlich das Gespräch und stimmt ein Lied an: "Ich könnte singen, aber mir fehlt der Atem".
Mit seinem Rollstuhl, dem "Rollwagen", wie er ihn nennt, kommt er zwar nicht so gut zurecht, weil ihm die Kraft in den Händen fehlt. "Da ist einer in der Abteilung, der fährt damit rum, als wenn er ein Rennauto hätte", hat der 95-Jährige beobachtet. Nicht alle Pflegekräfte würden Adolf Dietzel immer "einen Schubs" geben. Das ist aber nach Meinung seines Sohnes durchaus Absicht, um ihn zu aktivieren.
Ganz besonders genießt Adolf Dietzel im Casa Reha die tägliche "Gaudi", zu der ihn die Monika abholt. "Da wird das Hirn ein bisschen beansprucht und das gefällt mir. Es wird zum Beispiel der Anfang von einem Lied gesagt und man muss es weiterführen oder einen Vornamen mit A sagen", erzählt er.
Norbert Dietzel: Es geht um Menschen und nicht um Waren
Doch was, wenn das Heim schließt und es mit der "Gaudi" und dem schönen Zimmer vorbei ist? Norbert Dietzel bemüht sich, einen neuen Heimplatz für seinen Vater zu finden und hat ihn in Niederlauer, Mellrichstadt und Bad Neustadt auf die Warteliste setzen lassen. Einige Bewohner des Casa Reha hätten vage Angebote zur Verlegung in andere Häuser der Korian-Gruppe erhalten, hat Dietzel gehört. "'Wir haben ein modernes Haus in Sennfeld', wurde ihnen wohl gesagt. Allerdings eher unkonkret und nicht mit 'Hier sind die Konditionen, im August können Sie einziehen'", schildert Dietzel.
Er gibt zu bedenken, dass es sich bei den Bewohnern zum größten Teil um körperlich und/oder geistig hilflose Menschen handle. "Die wissen überhaupt nicht mehr, was los ist. Das ist wie wenn Sie einem kleinen Kind sagen: 'Mama und Papa gehen jetzt für immer, Tschüss.' Aber es geht hier um Menschen und nicht um Waren, die einfach abgeschoben werden können", kritisiert Dietzel.
Nicht nur Korian und Rhön-Klinikum in der Pflicht
Natürlich würde er das nie wollen, frage sich aber trotzdem: "Was würde passieren, wenn die Leute sich weigern zu gehen? Setzt man dann die Rollstuhlfahrer am 31. Dezember um Mitternacht auf die Straße bei minus 10 Grad?". Die Korian-Gruppe trage den Slogan "Verantwortung, Initiative und Vertrauen", lebe aber nichts davon, zumindest nicht vor Ort, so Dietzel.
"Wie kann ein Betreiber wie Korian, der genau auf so ein Haus eigentlich stolz sein dürfte, nichts tun? Sie haben in der gleichen Woche noch einen neuen Bewohner aufgenommen und drei Tage später dicht gemacht. Wir sind aus allen Wolken gefallen", so Dietzel verärgert. "Und plötzlich sagen sie, das entspricht nicht mehr den Anforderungen. Kein Wort, was sie versucht haben, um ihnen gerecht zu werden und das abzuwenden."
Er erwarte außerdem, dass Landrat, Bürgermeister oder wer sonst hier Verantwortung trage, dieser gerecht werde. Denn Daseinsvorsorge sieht er auch als kommunale Frage an. Den Rhön-Klinikum Konzern als Vermieter sieht er ebenfalls in der Pflicht. „Wenn - nach unseren Recherchen seit 2011 - eine Landesheimbauverordnung besteht und das Rhön-Klinikum als Spezialist im Gesundheits- und Krankenhausbau nicht in der Lage ist, das Haus so zu ertüchtigen, dass es den Anforderungen entspricht, dann ist das für mich eine Bankrotterklärung", so Norbert Dietzel.